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DER DRITTE AKT
DIE FUENFTE SZENE
Julia kuschelte sich in Romeos Arme und liess den Blick durch ihr Zimmer
schweifen. Bevor Romeo zu ihr kam, hatte sie eilig ihre Puppen versteckt und
sogar ihre Heiligenbilder von der Wand genommen. Jetzt sah ihr Zimmer eher wie
das einer Frau aus. Sie fuehlte sich so wohl, dass sie am liebsten geschnurrt
haette.
Julia kitzelte Romeos Nase mit einer Straehne ihres Haares und beobachtete,
wie sie zuckte. Schlaefrig wischte Romeo sich mit der Hand darueber.
Vor dem Fenster zog Ulo gerade den Kopf aus dem Gefieder und stiess Azzuro an.
"Sie wachen auf."
Azzuro murmelte und versuchte, sich die Augen mit dem Fluegel zuzuhalten.
Romeo schlug die Augen auf und linste aus dem Fenster. "Ich hoere eine
Lerche."
Julia schuettelte den Kopf. "Das war bestimmt eine Nachtigall. Guck, die
Kraehen da draussen schlafen auch noch, obwohl sie sonst immer mit die ersten
sind, die aufwachen."
Zweifelnd blickte Romeo auf und begegnete Ulos Blick. "Die Kraehe da sieht
aber ziemlich wach aus. Also war es doch die Lerche."
Ulo plinkerte mit den Augen, um auch die letzten Reste des Schlafes zu
vertreiben.
"Sie hat nur getraeumt. Jetzt sind ihre Augen wieder zu und es war die
Nachtigall."
Azzuro streckte sich und klapperte mit dem Schnabel. "Da." Romeo zeigte mit
dem Finger. "Jetzt ist die andere auch noch wach." Als er sah, dass Julia mit
dem Kinn zitterte, streichelte er ihre Wange. "Schon gut, schon gut. Wenn du
es gerne moechtest, ist es noch Nacht und die beiden da sind Fledermaeuse."
"Wasss issst?", fragte Wlad.
"Nichts.", versetzte Azzuro muerrisch. "Geh schlafen."
Wlad zuckte die Schultern und verschwand unter der Dachrinne.
Julia, die Wlad beobachtet hatte, stoehnte. "Leider geht die Fledermaus gerade
schlafen. Wahrscheinlich ist es doch Morgen und du solltest gehen, sonst
erwischen dich noch Escalusens Leute und du wirst aufgehaengt."
"Es kann aber doch nicht Morgen sein. Du hast gerade gesagt, dass es noch
Nacht ist.", noergelte Romeo.
"Und jetzt sage ich, dass es Morgen ist."
Romeo murmelte etwas darueber, dass Frauen nicht wissen, was sie wollen, stand
aber gehorsam auf und zog sich an.
"Ich moechte dich nicht gehen lassen."
"Ich will ja auch nicht gehen. Aber..." Er brach ab.
"Eben: Aber." Julia grabbelte auf dem Nachttisch nach einem Taschentuch.
"Wenn sie jetzt sagt, dass ihre Herzen immer beieinander sind, hacke ich ihr
die Augen aus.", brummte Azzuro.
Julia laechelte unter Traenen. "Weisst du, unsere Koerper moegen zwar getrennt
sein, aber..."
Ulo sprang auf Azzuros Ruecken und hielt ihn fest.
"Eben: Aber.", versetzte Romeo.
Polly steckte den Kopf zur Tuer herein. "Es wird gleich hell. Ausserdem ist
deine Mutter hierher unterwegs, Julia."
Romeo, der schon auf der Strickleiter stand, reckte sich Julia entgegen.
"Komm, gib mir noch einen Kuss."
Julia grabschte ein hilfloses Holzpferdchen, das sich nicht rechtzeitig mit
den anderen Spielsachen im Schrank versteckt hatte und kuesste es herzhaft.
"Hier, das Pferd bekommt ganz viele Kuesse mit, dann hast du welche auf
Vorrat." Sie reichte Romeo das Pferdchen.
Romeo laechelte. "Ich komme zurueck, bevor sie alle aufgebraucht sind."
"Wohl hoere ich der Botschaft Wort, allein, mir fehlt der Glaube.", meinte
Julia.
"Ich hasse diese falsche Zitiererei.", knurrte Azzuro.
"Noch ist Polen nicht verloren." Romeo zwinkerte Julia aufmunternd zu.
"Trotzdem, etwas ist faul..."
"KRAH!", schrie Azzuro mit Nachdruck.
"Siehst du, jetzt ist Morgen." Romeo winkte. "Ich schreibe dir."
Julia winkte, bis Romeo ueber die Gartenmauer verschwunden war, dann kletterte
sie von der Fensterbank und wandte sich ihrer Mutter zu.
Frau Capulet, die offenbar gehofft hatte, Julia noch schlaftrunken und wenig
widerspenstig anzutreffen, verzog das Gesicht, als sie ihre Tochter sah. "Du
bist reichlich frueh auf."
"Ich konnte nicht schlafen."
"Haette sie auch gar nicht gewollt." Azzuro kicherte in sich hinein.
"Du trauerst um Tybalt, hm?" Frau Capulet strich Julia ueber das Haar. "Du
solltest dich nicht so sehr graemen."
"Ich habe einen Menschen verloren, der mir sehr viel bedeutet." Julia
schniefte.
"Und ob sie das hat." Ulo wand sich vor unterdruecktem Lachen.
"Du solltest nicht mehr um Tybalt weinen, das macht ihn nicht wieder lebendig.
Eher weinte ich, weil dieser Romeo noch lebt."
"Es waere gut, wenn ich Romeo gleich jetzt in meinen Haenden haette." Julia
verbarg ihr Lachen hinter einem umstaendlichen Naseputzen.
"Das laesst sich leider nicht machen. Allerdings werde ich dafuer sorgen, dass
er auch im Exil nicht lange ueberlebt, glaub mir."
Julia nickte ernsthaft. "Wenn ich nur wuesste, wie ich es anstellen soll, dann
sorgte ich dafuer, dass Romeo bald eine ewige Ruhe findet."
"Wenn Julia das in die Hand nimmt, kann Romeo allerdings ruhig schlafen.",
meinte Azzuro.
"Ihre Mutter merkt aber auch gar nichts, hm?" Ulo lehnte sich zurueck und
genoss Julias spitze Zunge.
Frau Capulet laechelte. "Das ist der rechte Geist, Julia. Wenn du so weiter
machst, wirst du die Capulets wuerdig vertreten."
"ZERtreten will ich sie." Julia stampfte mit dem Fuss auf. "Meine Feinde,
natuerlich."
"Natuerlich.", stimmte ihre Mutter zu. "Ich habe uebrigens eine gute Nachricht
fuer dich."
"Gibt es gute Nachrichten, wenn ein geliebter Mensch unerreichbar ist?"
"Jetzt traegt sie zu dick auf." Azzuro schuettelte den Kopf.
"Dein Vater meint, dass das Leben weitergehen muss. Er hat beschlossen, dass
du Paris heiratest. Gleich am Donnerstag."
Julia wurde kreidebleich. "Das ist ja schon uebermorgen! Das geht mir zu
schnell."
"Unsinn." Frau Capulet runzelte unwillig die Stirn. "Aber warte nur, bis dein
Vater das hoert."
Herr Capulet kam ins Zimmer und schuettelte den Kopf. "Heulst du denn immer
noch, Julia? Hat deine Mutter dir nicht gesagt, dass du allen Grund zur Freude
hast?"
Julia schluchzte noch lauter.
"Sie will Paris nicht heiraten.", klaerte Frau Capulet ihren Mann auf. "Es
geht ihr zu schnell, sagt sie."
In Herrn Capulet erwachte der Jaehzorn, den in seiner Jugend buchstaeblich die
halbe Stadt gefuerchtet hatte. "Was? Paris ist ein guter Mann und eine
hervorragende Partie. Und du willst nicht?" Sein Geschrei erklomm neue Hoehen.
"Du wirst den Mann heiraten, den ich dir nenne, hast du mich verstanden? Und
wenn ich dich an den Haaren zur Kirche zerre, du heiratest Paris!"
"Aber, aber." Frau Capulet beobachtete besorgt die pochende Ader an der
Schlaefe ihres Mannes und sah sich dem Witwenstand naeher als ihr lieb war.
"Reg' dich nicht so auf."
Julia erkannte, dass ihr Vater jenseits aller Vernunft war. "Lass mich doch
erklaeren..."
"Ich soll mich nicht aufregen? Nicht aufregen?" Er rang nach Luft. "Meine
Tochter will, dass ich mein Wort nicht halte, zieht meinen guten Namen in den
Schmutz und bringt mich vor der ganzen Stadt in Verruf - und ich soll mich
nicht AUFREGEN?"
Polly, die wusste, dass er gleich anfangen wuerde zu fluchen, stellte sich
schuetzend vor Julia. "Lasst sie doch reden."
"Reden? Ihr redet mir alle drei schon zuviel. Da ist ein gutaussehender Mann,
erfolgreich, nett, der Julia alles bieten kann und einen anstaendigen
Brautpreis zahlt... Und meiner Tochter faellt nichts besseres ein, als mir
vorzuheulen, dass sie ihn nicht will. Was meinst du eigentlich, dass diese
Maenner auf den Baeumen wachsen?"
Ulo blickte auf Azzuro und schuettelte den Kopf. "Da hat er leider Recht."
Herr Capulet schuettelte den Kopf wie ein Stier, der dem roten Tuch hinterher
schaut. "Ich will dir mal was sagen, Julia: Entweder heiratest du Paris oder
du kannst sehen wo du bleibst." Er drehte sich um und stapfte zur Tuer. "Ich
dachte eigentlich, dass ich von Glueck reden kann, wenigstens ein Kind zu
haben, wenn schon keinen Sohn, aber wenn ich mir dich so ansehe, Julia, frage
ich mich, ob ich dich nicht besser gleich nach der Geburt ersaeuft haette."
Julia zuckte zusammen, als die Tuer hinter ihrem Vater ins Schloss schepperte.
"Mama?"
Frau Capulet seufzte und stiess dann in das Horn ihres Mannes, wie sie es ihre
ganze Ehe lang getan hatte. "Nein, nicht Mama. Sag, dass du Paris heiratest,
dann kannst du auch wieder Mama sagen."
"Wenn es das ist, was du willst, dann kannst du mich auch gleich neben Tybalt
begraben!"
Die Tuer flog ein zweites Mal mit lautem Knall zu. Julia trat verzweifelt
dagegen. "Was soll ich jetzt bloss tun? Polly, hast du keine Idee? Ich kann
doch nicht Paris heiraten!"
"Und warum nicht?" Polly fand es leichter, sich vom Sturm vorwaerts blasen zu
lassen, als sich gegen ihn zu stemmen. "Er ist bestimmt kein schlechter Mann.
Dein Vater hat schon Recht: Er sieht besser aus als Romeo, hat einen besseren
Ruf, ist nicht mit deiner Familie verfeindet und ausserdem ist er hier. Was
willst du mehr?"
Julia starrte ihre alte Vertraute unglaeubig an. "Auch du, meine Amme Polly?"
Azzuro stoehnte.
Polly hob hilflos die Haende. "Wir wollen alle nur dein bestes."
"Das bekommt ihr aber nicht.", murmelte Julia.
"Was sagst du?"
"Ich sagte, dass ich zu Bruder Lawrence gehen will. Wenn ich heiraten soll,
dann muss er mich auf eine wahrhaft christliche Ehe vorbereiten." Julia setzte
ein falsches Laecheln auf.
Polly traute dem ploetzlichen Frieden nicht ganz, zuckte aber die Schultern.
"Das ist gut. Ich werde deiner Mutter sagen, dass du dich bessern willst." Sie
ging und sah nicht, wie sich Julia weinend auf ihr Bett warf.
Hier stehen sie nun, unsere Akteure. Julia weint sich die Augen aus dem
Gesicht, weil sie sich nicht offen zu Romeo bekennen darf, Julias Mutter
stellt den haeuslichen Frieden ueber das Glueck ihres Kindes, Polly ist
wetterwendisch, Romeo verbannt, Paris sieht der Rettung fuer seinen allzu
leeren Geldbeutel entgegen und Bruder Lawrence ist in einer boesen Zwangslage.
Wie gerne, liebe Leserin, lieber Leser, versaehe ich die Geschichte mit einem
gluecklichen Ende. Doch die Goetter der Mythenwelt haben es anders bestimmt
und wuerzen unsere Geschichte mit unendlichen Schwierigkeiten. Es scheint, als
haetten Romeo und Julia die Goetter veraergert.