| DER ERSTE AKT |
| DIE ZWEITE SZENE |
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| Ulo und Azzuro beschlossen, Romeo nicht weiter dabei zuzusehen, wie er sich |
| seinem Liebeskummer hingab, sondern lieber zum Haus Capulets zu fliegen. Im |
| Wohnzimmer der Villa Capulets fanden sie den inzwischen angezogenen Hausherren |
| mit seinem Freund Paris. |
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| "Noch so ein Stutzer.", bemerkte Azzuro und deutete mit dem Schnabel auf |
| Paris. |
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| "Was hast du denn gegen ihn?", fragte Ulo. "Ich finde, er hat einen |
| knackigen..." |
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| "Ulo!" |
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| "...Ausdruck im Gesicht.", schloss Ulo lahm. |
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| "Seit wann gefallen dir denn Menschen?" Azzuro verstand seine Gefaehrtin |
| nicht. |
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| "Es ist gut, dass ich so alt bin.", raesonierte Capulet drinnen. |
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| "Pfft.", machte Azzuro. "Das nennt man dann aus der Not eine Tugend machen." |
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| Ulo grinste nur zur Antwort. |
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| "Wenn ich juenger waere, fiele es mir wahrscheinlich schwerer, endlich Frieden |
| mit Montague zu halten." Capulet seufzte. |
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| Ulo lachte kraechzend. "Kannst du dir vorstellen, wie es aussaehe, wenn die |
| beiden alten Maenner aufeinander losgingen?" |
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| Azzuro lachte mit. "Nur zu gut. Wahrscheinlich wuerden sie sich mit |
| Pillendoeschen bewerfen." |
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| "Oder ihre Krankengeschichte aufschreiben." |
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| Azzuro schuettelte sich. "Also _das_ waere dann wirklich zuviel." |
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| "Es ist schon eine Schande, dass der alte Streit immer noch existiert.", |
| meinte Paris. |
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| "So geht es nun einmal. Irgendwann machen sich solche Streitigkeiten |
| selbstaendig.", antwortete Capulet. |
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| "Das erste vernuenftige Wort, dass der Alte sagt." Haette Ulo Haende anstelle |
| der Fluegel gehabt, so haette sie wohl Beifall geklatscht. |
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| Paris nickte bedaechtig. "Damit hast du wahrscheinlich Recht, aber lass uns |
| von etwas angenehmeren reden. Was haeltst du von dem Gedanken, dass ich Julia |
| heirate?" |
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| Azzuro warf einen kritischen Blick auf Paris. "Abstand haelt er, wenn er |
| schlau ist." |
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| "Im Grund habe ich nichts dagegen, aber sie ist meine einzige Tochter und |
| ausserdem noch zu jung. Sie weiss ja noch nicht einmal, was es bedeutet, zu |
| heiraten. Warte, bis sie sechzehn ist, dann hast du meinen Segen." |
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| "Hm, ob sie ueberhaupt schon weiss, wie das mit den Bienchen und den Bluemchen |
| ist?", fragte sich Ulo. |
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| "Sie wird es schon herausfinden. Immerhin laesst der Alte ihr ja noch zwei |
| Jahre." |
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| "Ich kenne Frauen, die juenger waren", wandte Paris ein "und trotzdem mit |
| einem Stall voller Kinder gluecklich wurden." |
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| "Sieh dir nur meine Frau an. Du hast nicht viel von ihr, wenn du sie so jung |
| heiratest, glaub mir." Capulet zuckte mit den Schultern. |
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| "Dieser..." Ulo holte tief Luft. |
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| "Beherrsch dich." Azzuro zupfte sie an den Schwanzfedern. |
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| Paris nickte. "Wenn du meinst, werde ich mich natuerlich danach richten." |
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| "Ich koennte ihnen...", grollte Ulo. |
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| Azzuro ahnte, was jetzt kam. "Tus nicht." |
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| Ulo seufzte tief und verfluchte einmal mehr die Goetter, die sie zwangen, eine |
| stumme Beobachterin zu sein. |
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| "Vertrau mir, ich habe schon manche Frau gesehen.", meinte Capulet. |
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| "Das glaub ich dem alten Bock.", grinste Azzuro. |
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| "Fang du nicht auch noch an, dich wie ein Macho zu benehmen.", fuhr Ulo ihren |
| Gefaehrten an. |
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| "Heute abend gebe ich ein Fest, Paris, da kannst du Julia kennenlernen." Er |
| zwinkerte seinem Freund zu. "Schau dich um und such dir unter den jungen |
| Frauen einen angenehmen Zeitvertreib fuer die naechsten beiden Jahre. Und was |
| Julia angeht, so umwirb sie ein bisschen, damit sie in zwei Jahren nicht |
| gleich in Traenen ausbricht, dann kannst du sie haben." |
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| "Wenn das deine Entscheidung ist, werde ich mich natuerlich daran halten." |
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| Capulet wandte sich um und schuettelte heftig eine kleine Glocke, die auf dem |
| Tisch stand. Ulo haette sich am liebsten die Ohren zugehalten, denn die Glocke |
| war offensichtlich gebrochen und bewies, dass Capulet am falschen Ende sparte. |
| Als der Diener das Zimmer betrat, drueckte Capulet ihm eine Liste in die Hand. |
| "Geh und suche all die Leute auf, die auf dieser Liste stehen, richte ihnen |
| aus, dass sie herzlich eingeladen sind." |
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| Der Diener warf einen zweifelnden Blick auf die Liste in seinen Haenden. |
| "Alle?" |
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| "Was dachtest du denn?" Capulet schuettelte den Kopf und hakte sich bei Paris |
| unter. "Komm mit, wir werfen einen Blick auf die Rosen." |
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| "Alle..." Der Diener, den wir, obwohl er keine weitere Bedeutung hat und |
| eigentlich zu den Namenlosen gehoert, James nennen wollen, starrte die Liste |
| an, als koenne er sie mit seinen Blicken in Brand setzen. "Alle soll ich |
| einladen.", brummte er. "Als ob ich lesen koennte." |
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| Ulo zwinkerte belustigt. "Na, so ein Pech. Da wird Paris ja heute abend |
| alleine sein." |
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| "Warten wirs ab.", antwortete Azzuro. |
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| "Jetzt steh ich hier, ich armer Tor." James seufzte. |
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| "Ich hasse es, wenn sie die Zitate vertauschen." Azzuro schuettelte sich. "Wie |
| soll man denn da den Ueberblick behalten." |
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| Die Kraehen folgten James, als er mit der Liste in der Hand das Haus verliess, |
| um jemanden zu finden, der ihm sagte, wen er einladen sollte. Wie so viele |
| Menschen war auch Herr Capulet jemand, der Dingen, die er schwarz auf weiss |
| vor sich sah, unbedingtes Vertrauen schenkte. Wer jedoch je erlebt hat, wie |
| Geruechte wirken, weiss, dass das gesprochene und erinnerte Wort dem |
| niedergeschriebenen immer ueberlegen ist. Geschichte, so wissen wir, besteht |
| nur zu einem verschwindend kleinen Teil in Dokumenten. Seien Sie ehrlich, wem |
| glaubten Sie denn eher: einem verstaubten und halbverschimmelten Brief, der |
| besagt, dass Ihr Grossvater gar nicht Ihr Grossvater ist, oder den |
| Erzaehlungen ihrer Grossmutter, die einen wunderbaren Kuchen backt, um ihre |
| Behauptung zu untermauern? |
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| "Wenn James sich eine Menge Aerger ersparen will, braucht er nur die Liste als |
| Klopapier zu benutzen.", meinte Ulo. |
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| James blickte verwirrt auf. "Was meinst du damit?" |
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| "Krah.", antwortete Azzuro an Ulos statt. |
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| "Ich hab genau gehoert, dass du geredet hast." |
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| "Krahrah.", machte nun auch Ulo. |
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| "Jajaja, Krahrahrah." James trat missmutig gegen einen Stein und fluchte, da |
| der Stein den ungleichen Kampf gewann. "Ich habe es gehoert, habe ich." |
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| "Nichts hast du gehoert.", meinte Ulo. "Krah.", fuegte sie nach einer Pause |
| hinzu. |
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| "Ach, leck mich. Erst die dumme Liste und dann auch noch eine Kraehe, die |
| redet." |
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| "Nicht weniger dumm als die Liste.", kommentierte Azzuro so leise, dass nur |
| Ulo ihn verstand. |
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| "He, wenn es diese Liste nicht gaebe, wuerde Romeo..." |
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| "Halt den Schnabel!", fuhr Azzuro seine Gefaehrtin an. |
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| "Wer ist Romeo?", verlangte James zu wissen, der immer sehr genau hinhoerte, |
| wenn ein Gespraech nicht fuer ihn bestimmt war. |
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| Zu Ulos und Azzuros Glueck rief die Koechin nach James und gab ihm eine |
| fluessige Staerkung mit auf den Weg. So schnell, wie der Schnaps seinen Weg in |
| Jamesens Magen fand, vergass dieser die beiden Kraehen und machte sich an |
| seinen Auftrag. Auch Sie und ich haben Glueck, liebe Leserin, lieber Leser, |
| denn der erste Mensch, dem James begegnete, war Benevolio, der Romeo im |
| wahrsten Sinne des Wortes hinter sich herschleppte. Stellen Sie sich nur vor, |
| es sei jemand anders gewesen, dem James ueber den Weg lief. Vielleicht jemand, |
| den Herr Capulet einzuladen vergessen hatte, dann verliefe unsere Geschichte |
| von hier ab voellig anders, als Sie sie hoeren wollen und ich muesste mir |
| einfallen lassen, wie ich dies den Goettern der Mythenwelt erklaere. |
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| "Und der Gewerkschaft.", sagt Ulo amuesiert. |
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| _Und_ _der_ _Gewerkschaft_, _ja_. _Sei_ _gewarnt_, _Ulo_. _Wenn_ _du_ _mir_ |
| _noch_ _einmal_ _dazwischenquasselst_, _streiche_ _ich_ _dich_ _aus_ _der_ |
| _Geschichte_! |
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| "Das glaubst du doch selbst nicht. Wenn du das machst, trete ich in Streik.", |
| knurrt Azzuro und schwenkt ein rotes Faehnchen. |
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| _Schon_ _gut_. _Versucht_ _wenigstens_, _euch_ _anstaendig_ _zu_ _benehmen_. |
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| Benevolio grinste seinen Cousin an. "Hast du dich schon einmal im Kreis |
| gedreht, bis dir schwindlig wurde?" |
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| "Aeh..." Romeo verstand nicht, worauf sein Freund hinaus wollte. |
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| "Wenn man sich dreht, bis einem schwindlig wird, kann man sich helfen, indem |
| man sich in die andere Richtung dreht." |
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| "Das weiss ich." |
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| "Genauso ist es auch mit dir. Wenn du Rosaline nicht bekommen kannst, dann |
| schau dir eine andere an und schon fuehlst du dich besser." |
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| "Das waere ja den Teufel mit Beelzebub austreiben.", kommentierte Azzuro. |
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| "Wenn's denn hilft." Romeo zuckte die Schultern. |
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| "Sie koennen nicht zufaellig lesen?", fragte James. "Guten Tag, uebrigens." |
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| "Kommt darauf an.", brummte Romeo schlechtgelaunt. |
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| "Ach, schon gut, dann suche ich mir eben jemanden, der es kann." |
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| "Ich kann lesen." Nun hatte die Neugierde Romeo gepackt. |
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| Romeo nahm Herrn Capulets Liste entgegen und entzifferte unter Stoehnen und |
| Fluchen die Handschrift. Als er fertig war, gab er die Liste zurueck. |
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| "Danke, aber das brauche ich jetzt nicht mehr, schliesslich habe ich mir alles |
| gemerkt." |
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| James war sichtlich stolz auf sein Gedaechtnis. |
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| "Wohin sollen denn all die Leute kommen?", wollte Romeo wissen. |
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| "Herr Capulet gibt heute ein Fest. Wissen Sie, kommen Sie doch einfach vorbei, |
| wenn sie nicht gerade den Montagues die Stange halten." |
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| Benevolio grinste. "Das ist die Gelegenheit." |
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| "Du sprichst heute in Raetseln." |
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| "Hast du denn gar nicht darauf geachtet, was du vorgelesen hast?" |
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| "Ich war mit der Handschrift beschaeftigt." |
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| "Heute abend sind sowohl Rosaline als auch die schoensten Frauen Veronas bei |
| Capulet zu Gast." |
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| "Ja und? Sollen wir jetzt ein eigenes Fest geben?" |
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| "Nein. Wir gehen da hin und dann kannst du mir sagen, ob Rosaline wirklich die |
| Schoenste ist. Ich bin gespannt, was du sagst, wenn wir erst da sind." |
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| "Sie ist die Allerschoenste." |
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| "Sicher." Benevolio taetschelte Romeos Schulter. "Aber bis jetzt hast du sie |
| noch nicht gesehen, wenn alle anderen Schoenheiten dabei waren." |
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| "Hoert sich an wie eine Miss-Wahl." meinte Azzuro. |
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| Romeo ueberlegte eine Weile, dann nickte er. "Ich komme mit, aber nicht, weil |
| ich mir die anderen Frauen ansehen will, sondern bloss um Rosaline zu sehen." |
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| Benevolio seufzte. "Warten wir ab." |
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