| DER FUENFTE AKT |
| DIE ERSTE SZENE |
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| "Das war eine bescheuerte Idee.", beschwerte sich Azzuro. "Wir haetten in |
| Verona bleiben sollen." |
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| "Und diesen aufgeblasenen Affen zusehen, wie sie Trauer heucheln?" Ulo tauchte |
| ihren Schnabel tief in eine Pfuetze und schmatzte. |
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| "Warum nicht? Schliesslich gibt es nachher ein Festmahl." |
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| "Du bist verfressen." |
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| "Ja." Azzuro konnte dies nicht abstreiten. "Aber nach Mantua ist es weit und |
| ich bin muede." |
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| "Ich moechte Romeo sehen, wenn er zwei Nachrichten gleichzeitig bekommt. Was |
| wird er wohl glauben, dass Julia tot ist oder dass sie schlaeft und auf ihn |
| wartet? Und was, wenn Bruder Lawrence den Brief vergessen hat?" |
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| "Keine Ahnung. Sagen kannst du es ihm jedenfalls nicht, sonst sind wir |
| draussen." Er schuettelte sich bei dem Gedanken. "Sieh mal, da geht Bruder |
| John." |
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| "Wer ist das nun wieder?" |
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| "Lawrence hat ihm den Brief fuer Romeo gegeben. Gut, dann koennen wir jetzt |
| umdrehen." |
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| "Ich wuerde mich lieber davon ueberzeugen, dass Romeo den Brief bekommt." |
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| "Sei nicht albern." Azzuro streckte die Fluegel und hob nach Verona ab, die |
| seufzende Ulo dicht hinter sich. |
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| Kehren wir nicht mit den Turtelkraehen nach Verona zurueck, ich bin sicher, |
| dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sich Erspriesslicheres vorstellen |
| koennen, als bei Julias Beerdigung zuzusehen. Zumal weder Sie noch ich etwas |
| von dem Festschmaus hinterher bekommen werden. |
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| Romeo wischte sich den Schlaf aus den Augen, als sein Diener Balthasar |
| eintrat. "Guten Morgen. Meine Guete, habe ich geschlafen." |
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| "Gut, hoffe ich?" Balthasar war nicht danach zumute, seine Nachrichten schnell |
| loszuwerden. |
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| "Ich hatte einen verrueckten Traum. Ich lag tot in einem Grab und Julia kam zu |
| mir. Hast du schon einmal so etwas Dummes gehoert?" Er gaehnte und schwang die |
| Beine ueber die Bettkante. "Na, ich brauche nur an Julia zu denken, schon |
| fuehle ich mich praechtig. Was gibt es Neues aus Verona? Wie geht es Julia? |
| Und was macht meine Familie?" |
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| Balthasar goss Wasser in die Waschschuessel. "Ich habe zwei Nachrichten, eine |
| gute und eine schlechte." |
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| "Raetsel am fruehen Morgen!", stoehnte Romeo. "Kannst du damit nicht warten, |
| bis ich wacher bin?" |
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| "Julia geht es so gut, dass es schon wieder schlecht ist." Balthasar legte |
| langsam ein Handtuch neben die Schuessel. |
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| "Komm, spuck's aus." Romeo tauchte das Gesicht ins Wasser. |
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| "Es geht Julia gut, denn sie ist im Himmel. Das ist die gute Nachricht." |
| Balthasar sprach schnell. |
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| "Ich verstehe." Romeo verzog keine Miene. "Besorg' mir Papier, meins ist |
| gestern ausgegangen." |
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| Balthasar betrachtete Romeo kritisch. "Du siehst nicht gut aus. Viel zu blass |
| um die Nase fuer meinen Geschmack." |
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| Romeo, fest entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen, grinste breit. "Du |
| sollst mich ja auch nicht heiraten. Los schon, ich brauche das Papier." |
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| Balthasar ging, doch nicht ohne Romeo noch einen misstrauischen Blick |
| zuzuwerfen. |
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| Romeo zog seine Hose an und stopfte das Hemd energisch hinein. "Heute abend |
| bin ich bei Julia, komme was wolle.", murmelte er. |
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| Die Strassen Mantuas waren ueberfuellt und Romeo wurde staendig angerempelt, |
| waehrend er sich einen Weg durch die Menge bahnte. Schliesslich erreichte er |
| sein Ziel: Eine Apotheke, deren Geschaefte schlecht genug gingen, dass ihr |
| Besitzer die Gesetze missachten und ihm Gift verkaufen wuerde. Aergerlich |
| betrachtete er das Geschlossen-Schild an der Tuer und schlug dann mit der |
| Faust gegen den Rahmen. "Hallo?" |
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| Der Apotheker oeffnete. "Ich habe heute keinen Notdienst." |
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| "Doch, haben Sie." Romeo hielt dem Mann ein kleines Vermoegen unter die Nase. |
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| "Kommen Sie rein." Der Apotheker zog ihn am Aermel hinter sich in den |
| Verkaufsraum und schlug die Tuer zu. "Was wollen Sie?" |
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| "Gift. Ein gutes, schnelles Gift." |
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| Der Mann schuettelte den Kopf. "Ich bin doch nicht wahnsinnig. Wenn ich Ihnen |
| Gift verkaufe, verliere ich meine Zulassung." |
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| "Zulassung hin, Geld her." Romeo schwenkte die Muenzen. "Ich werde Sie nicht |
| verraten." |
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| Die Finger des Apothekers zuckten. "Ich kann nicht." |
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| "Was? Widerstehen?" Romeo laechelte. "Koennte ich auch nicht, wenn ich sehe, |
| wie schlecht ausgestattet Sie sind. Fuer das Geld koennen Sie eine Menge Ware |
| kaufen." |
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| Der Apotheker schloss umstaendlich einen Schrank auf. "Da, nehmen Sie. Und |
| dann verschwinden Sie." |
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| Romeo nickte. "Ich verschwinde auf immer, keine Sorge. Und wenn jemand Sie |
| fragt, haben Sie mir kein Gift verkauft, sondern Medizin." |
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| "Worauf Sie sich verlassen koennen." Der Apotheker blickte auf die Muenzen in |
| seinen Haenden, denn Scheine waren noch nicht erfunden worden. |
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