| DER VIERTE AKT |
| DIE FUENFTE SZENE |
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| Polly hielt sich nicht damit auf, an Julias Tuer zu klopfen, sondern stuermte |
| gleich ins Zimmer. "Julia, Mauseschwaenzchen, Zeit zum Aufstehen.", floetete |
| sie. |
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| "Wie lange sie wohl braucht?" Azzuro blickte betont zu Julias Bett, dessen |
| Vorhaenge nur einen Spalt weit offen standen. |
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| "Warten wir's ab." Ulo legte bedaechtig eine Feder wieder an ihren richtigen |
| Platz. |
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| "Julia, troedel nicht, dein Braeutigam ist da." Polly hielt einen Moment inne |
| und kicherte. "Du tankst wohl jetzt schon Schlaf? Recht hast du, Paris wird |
| sicherlich fuer die naechste Zeit andere Plaene fuer die Naechte haben. So, |
| jetzt aber raus mit dir, du Schlafmuetze! Du willst doch nicht, dass Paris |
| dich im Bett findet, oder? Dann kommt ihr beide verspaetet zur Hochzeit - und |
| zu frueh zur Hochzeitsnacht." Sie kicherte wieder. |
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| "Da!" Azzuro wackelte aufgeregt auf seinem Ast hin und her. "Jetzt merkt |
| sie's." |
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| Polly zog die Vorhaenge zurueck. "Was denn, immer noch angezogen? Warst du |
| gestern so muede? Schaemen solltest du dich, das schoene Kleid ist ganz |
| verdrueckt. Und ich muss es wieder buegeln." Sie ruettelte an Julias Schulter. |
| "Julia!" Pollys Stirn krauste sich. "Julia?" |
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| "Achtung, jetzt kommt's. Was gaebe ich jetzt fuer ein Paar Haende!" Ulo |
| stoehnte, als Polly markerschuetternd schrie. |
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| Wlad streckte den Kopf unter der Regenrinne hervor. "Wer ssschreit denn mitten |
| in der Nacht?" |
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| "Schlaf weiter." Azzuro wandte den Blick nicht von der Szene in Julias |
| Schlafzimmer. |
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| Brummelnd zog Wlad sich zurueck. |
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| "Was ist denn das fuer ein Laerm hier?" Frau Capulets modisch weisse Haut |
| roetete sich vor Aerger. |
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| "Oh Jammer, oh Weh!" Polly zerraufte sich das Haar. "Julia!" |
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| "Hat sie wieder Floehe im Kopf?", fragte Herr Capulet ungnaedig, als er ins |
| Zimmer kam. |
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| "Nein, aber bald Wuermer. Sie ist tot!" Polly zog das letzte Wort mit einem |
| Schluchzen so lang, dass man es kaum verstehen konnte. |
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| "Tot." Frau Capulet wurde wieder bleich und plumpste auf den Boden. |
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| Herr Capulet schluckte schwer. "Tot?" |
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| "Verschieden, zu ihren Ahnen gegangen, hat den Loeffel abgegeben, den letzten |
| Tanz getanzt, in den ewigen Jagdgruenden..." Polly holte Luft. "Tot." |
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| Nun daemmerte auch Herrn Capulet die Bedeutung ihrer Worte. Hilflos blickte er |
| sich im Raum um, fand schliesslich eine Waschschuessel und schleuderte sie |
| gegen die Wand. "Das ist nicht wahr!" |
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| Frau Capulet, die den Inhalt der Waschschuessel ins Gesicht bekommen hatte, |
| oeffnete ein Auge und griff sich an die Brust. "Meine Julia? Julia!" |
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| "Krokodilstraenen." Ulo reckte veraechtlich den Schnabel in die Luft. |
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| "Du denkst auch immer das Schlimmste." Azzuro konnte sich ein Schniefen nicht |
| verkneifen. |
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| "Ich kenne die Menschen.", versetzte Ulo. |
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| "Wie konnte das nur passieren?" Polly umfasste ihre kleine Flasche mit |
| Lebenselixir, die sie aus ihren grossen Rocktaschen gezogen hatte. |
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| "Hey, davon kann sie mir etwas abgeben." Azzuro beugte sich nach vorne. |
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| "Pass nur auf, dass du nicht vom Ast faellst, Gierschlund." Ulo zupfte ihn |
| missbilligend am Schwanz. "Da, jetzt kommt Paris. Da kannst du |
| Krokodilstraenen sehen!" |
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| "Ach was. Er sagt doch, dass er sie liebt." |
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| "Richtig, er sagt es. Das heisst aber nicht, dass er es wirklich tut." |
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| "Wenn er sie nicht liebt, warum heiratet er sie dann? Sie hat noch nicht |
| einmal Eier gelegt." |
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| "Menschen legen keine Eier, sie werden schwanger.", klaerte Ulo ihren |
| Gefaehrten auf. "Paris will Julias Stellung und ihr Erbe. An ihr selbst hat er |
| kein Interesse. Aber jetzt muss er trauern, sonst redet die Nachbarschaft |
| ueber ihn." |
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| Bruder Lawrence erfasste beim ersten Blick ins Zimmer, dass Julia die von ihm |
| verabreichte Medizin getrunken hatte. Er verkniff sich ein Laecheln. "Wie |
| steht es? Ist unsere huebsche Braut fertig? Es ist Zeit fuer sie, zur Kirche |
| zu gehen." |
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| Herr Capulet rieb sich ueber das Gesicht. "Tja, hingehen wird sie wohl, nur |
| heim kommt sie nicht mehr." |
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| Paris, der das Schlafzimmer einer Dame nicht unaufgefordert betreten wollte, |
| war an der Tuer stehen geblieben und ahnte noch nicht, dass er auf seine |
| Hochzeit verzichten musste. Nun lachte er. "Doch, aber in mein Heim." |
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| Herr Capulet schuettelte den Kopf. "Nein, heute Nacht hat Julia den Tod |
| geheiratet, und der hat sie dann gleich defloriert, meine kleine Blume." |
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| "Umpf." Azzuro wand sich. "Defloriert - wie unpassend." |
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| Paris machte einen taumelnden Schritt in den Raum hinein und schuettelte die |
| Faust gegen die Decke. "Oh, Tod, wie konntest du mir das antun? Wie sehr habe |
| ich mich darauf gefreut, meine Braut zu kuessen, und jetzt nimmst du sie mir |
| weg." |
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| "ICH HABE DOCH GAR NICHTS DAMIT ZU TUN." |
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| Ulo wandte sich zu der dunklen Gestalt um, die neben ihr auf dem Ast sass und |
| mit den knochigen Beinen baumelte. "Das weiss er aber nicht." |
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| "Du bist erst spaeter dran, warum trinkst du nicht noch einen Kaffee in der |
| Garderobe?", schlug Azzuro vor. |
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| "WO SOLL ICH DEN DENN HINTUN?" Tod versank in die Schatten unter den |
| Blaettern. |
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| Frau Capulet betupfte ihre Augen mit einem Spitzentuechlein. "Was fuer ein |
| schrecklicher Tag. Da habe ich ein Kind, ein einziges, wunderbares, |
| freundliches, schoenes, froehliches Kind, das einzige Kind, an dem ich Freude |
| habe, und kaum kann ich sie verheiraten stirbt sie." |
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| Wie ein verstaerktes Echo trompetete Polly laut in ihr Taschentuch. "Wirklich |
| ein schrecklicher, widerlicher, stinkender, ekelhafter Tag. Die arme kleine |
| Julia, statt auf den Ruecken zu fallen und die Fuesse zur Decke zu strecken, |
| faellt sie aufs Kreuz und bleibt liegen." |
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| Paris, der so rasch kein Taschentuch hatte finden koennen, nahm Julias |
| Brautschleier und vergrub sein Gesicht darin. "Noch nicht verheiratet und |
| schon von meiner Braut geschieden, ich fuehle mich betrogen." Er warf Herrn |
| Capulet einen Blick zu, den dieser sogleich verstand. |
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| "Wem soll ich jetzt mein Vermoegen vererben? Warum konnte sie nicht zuerst |
| heiraten und dann sterben?" Herr Capulet machte sich nicht die Muehe, ein |
| Taschentuch zu suchen, sondern schneuzte sich in seinen Aermel. |
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| "Wahrscheinlich hattest du Recht mit den Krokodilstraenen.", meinte Azzuro. |
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| "Ich habe immer Recht." Ulo stiess ihren Gefaehrten mit dem Fluegel an. |
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| Bruder Lawrence war zum Fenster getreten. "Wann hat sie's getrunken?", raunte |
| er den Kraehen zu. |
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| "Ungefaehr Mitternacht.", antwortete Ulo. |
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| Lawrence rechnete. "Zehn Stunden, bleiben noch zweiunddreissig. Gut. Zeit, |
| dass sie beerdigt wird, sonst wacht sie uns noch waehrend der Beerdigung auf |
| und das waere peinlich." Er wandte sich um und setzte die Miene auf, die er |
| sonst fuer Predigten bereithielt. "So zu jammern ist wirklich nicht noetig, |
| liebe Brueder und Schwestern. Ihr wisst doch, dass Julia jetzt im Himmel ist |
| und mit den Englein Harfe spielt." |
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| Ulo verdrehte die Augen, schwieg aber. |
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| "Liebe Schwestern und Brueder, ihr solltet euch freuen, dass Julia jetzt im |
| Himmel ist. Wie eigensuechtig von euch, hier zu weinen. Goennt ihr Julia denn |
| nicht, dass sie jetzt im Paradies ist?" Er machte eine Pause. Als Frau Capulet |
| Luft holte, um seine Frage zu beantworten, fuhr Lawrence schnell fort. "Eltern |
| wuenschen sich doch, dass ihr Kind es gut hat. Und das hat sie es jetzt. Sie |
| ist beim lieben Gott und darf jetzt fuer ihn singen. Statt zu jammern, solltet |
| ihr euch freuen und feiern. Nur dass ihr jetzt nicht Julias Hochzeit mit einem |
| irdischen Braeutigam feiert, sondern ihre Hochzeit mit einem himmlischen. Und |
| der ist allemal besser als ein irdischer." Er zog Polly das Taschentuch |
| herunter und enthuellte die kleine Flasche, die sie im Schutz des Tuches immer |
| wieder an ihre Lippen gehoben hatte. "Also, Schluss jetzt mit dem Gejammer, |
| zieht Julia huebsch an und bringt sie in die Kirche, damit sie beerdigt werden |
| kann." |
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| Herr Capulet seufzte. "Jaja, das Leben geht weiter." |
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| "Richtig." Bruder Lawrence nickte ihm zu. |
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| "Dann werden wir also statt weisser Tuecher schwarze aufhaengen und traurige |
| Lieder statt der froehlichen spielen. Mit dem Fest wollen wir Julias |
| gedenken." Herr Capulet sah keinen Sinn darin, das gute Essen verkommen zu |
| lassen. |
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| "Ganz genau. Und jetzt troedelt nicht laenger, Gott will, dass ihr Julia |
| schnell beerdigt, damit nichts sie mehr von den Englein ablenkt." Bruder |
| Lawrence scheuchte alle hinaus. |
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| Polly sah sich im Festsaal um. "Tja, da werden wir wohl noch ein paar Dinge |
| aendern muessen." Ihr Blick fiel auf die Musiker. "Ihr koennt dann gehen, wir |
| brauchen euch nicht." |
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| Ein alter Gaertner, der die Topfrosen hinaus und dafuer Buchsbaum herein |
| brachte, schuettelte den Kopf. "Nein, geht noch nicht. Spielt mir doch 'Die |
| Lorelei'." |
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| "Warum ausgerechnet das?", wollte der erste Geiger wissen. |
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| "Weil ich es mich auf andere Gedanken bringt. Ich hoere in meinem Kopf die |
| ganze Zeit den Trauermarsch." Der alte Mann kratzte sich am Kopf und dachte an |
| die Margaritenbaeumchen im Gewaechshaus. Julia hatte sie besonders gern gehabt |
| und er beschloss, sie hier herein zu stellen und sich nicht um das Gezeter |
| Herrn Capulets zu kuemmern, der Margariten unpassend finden wuerde. Er |
| schneuzte sich verstohlen und nahm eine weitere Topfrose hoch. |
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| Der Geiger nickte. "Kannst du haben, aber was bekommen wir?" |
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| "Wie waere es mit einer Rose?" Der Gaertner spuerte Zorn aufsteigen. "Koennt |
| ihr einem alten Mann nicht einfach einen Gefallen tun?" |
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| "Davon werden wir nicht satt, Mann." |
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| Der Bratschist hob beschwichtigend seinen Bogen. "Komm, lass gut sein. Wir |
| spielen die Lorelei waehrend wir auf die Trauergaeste warten. Waere doch |
| gelacht, wenn wir nicht ein paar Happen abbekaemen." |
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