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DER VIERTE AKT
DIE DRITTE SZENE
Polly legte das Kleid, das Julias Mutter bei ihrer eigenen Hochzeit getragen
hatte, ueber einen Stuhl. "Huebsch ist das. Bestimmt freust du dich, dass du
es morgen anziehen kannst."
Julia hatte die Anprobe wie eine Kleiderpuppe ueber sich ergehen lassen und
reagierte auch jetzt nicht auf Pollys Worte. Obwohl es ihr schwer gefallen
war, hatte sie nicht einmal Einspruch erhoben, als die Schneiderin darauf
bestand, dass Julia zuviel Oberweite hatte und das Kleid unbedingt geaendert
werden musste. Gluecklicherweise war Frau Capulet eine praktische Frau und
hatte bei der Anfertigung des Kleides daran gedacht, ausreichend Stoff uebrig
zu lassen. Nur Julia hatte Ulos veraechtlichen Kommentar gehoert, dass der
Stoff wohl weniger aus Gruenden der Sparsamkeit dort verblieben war, sondern
weil Frau Capulet bei der damaligen Anprobe gemogelt hatte.
Ulo schuettelte auf ihrem Ast vor dem Fenster den Kopf. "Das arme Ding. Wie
kann man ihr nur zumuten, zu ihrer Hochzeit abgelegte Kleider zu tragen."
"Du hast dir noch nicht einmal ein Band um den Hals gebunden, als wir uns
zusammen getan haben.", murrte Azzuro.
"Warum haette ich auch sollen?", schnappte Ulo. "Du hattest es ja auch nicht
noetig, mir einen Heiratsantrag zu machen, geschweige denn einen
Verlobungsring zu besorgen."
Azzuro, der sich sehr genau daran erinnerte, einen glitzernden Ring aus einem
unbeaufsichtigten Schmuckkaestchen gestohlen zu haben, drehte sich schmollend
um. "Ich habe dir immerhin ein schoenes Nest gebaut."
Ulo ignorierte ihn und beobachtete Frau Capulet, die Julias Zimmer betrat.
"Kommt ihr zurecht? Habt ihr alles gefunden?", fragte Frau Capulet
aufgekratzt.
"Wir sind fertig." Julia gaehnte hinter vorgehaltener Hand. "Ich bin muede und
wenn ich morgen gut aussehen soll, muss ich noch ein bisschen schlafen."
"Es gibt da noch etwas, worueber wir reden sollten.", begann Frau Capulet
unsicher.
"Keine Sorge, Mama, Polly hat mir schon gesagt, dass Paris wahrscheinlich
schnarcht."
"Das ist nicht das einzige, Julia." Frau Capulet erroetete.
"Hat er Schweissfuesse?"
"N-nein." Frau Capulet wand sich. "Du brauchst keine Angst vor der
Hochzeitsnacht zu haben, weisst du." Sie aehnelte einem General, der eben
einen hoffnungslosen Ausfall befohlen hat.
"Natuerlich weiss ich, Mama." Julia genoss es, ihre Mutter so verlegen zu
sehen.
"Paris ist ein freundlicher Mann."
"Und alt genug, dass sie selbst Erfahrungen mit ihm haben koennte.", fuegte
Azzuro ungnaedig hinzu.
"Ich bin jetzt muede, Mama." Julia zog die Vorhaenge vom Bett und winkte.
"Gute Nacht."
Frau Capulet wollte noch etwas sagen, wurde allerdings von Polly am Arm
genommen. "Gehen wir schlafen und lassen Julia ihre Ruhe.", schlug Polly vor.
Julia seufzte laut, als die beiden gegangen waren. "Hoffentlich nicht bis
morgen."
Ulo schniefte laut.
"So schlimm ist es nicht, Kraehe." Julia zog ein Laecheln aus den Tiefen ihrer
Erinnerung und nagelte es entschlossen auf ihrem Gesicht fest. "Ich bin froh,
dass ihr hier seid. Dann muss ich das Zeug wenigstens nicht ganz alleine
trinken."
"Aehm, es macht dir aber hoffentlich nichts aus, wenn wir nicht mittrinken?",
fragte Ulo.
"Aber du koenntest es ruhig mit Wein verduennen und mir einen Schluck davon
abgeben. Von dem Wein, natuerlich." Azzuro rieb sich beilaeufig mit der Kralle
ueber den Schnabel.
Julia hoerte nicht zu, sondern betrachtete die Flasche. "Was meint ihr, hat
Bruder Lawrence mich reingelegt?"
"Warum sollte er?", fragte Ulo.
"Wie staende er wohl da, wenn ich allen erzaehle, dass er mich binnen zweier
Tage gleich zwei Mal verheiratet hat?"
"Ach was." Ulo kniff ein Auge zu. "Wer sollte dir wohl glauben, dass du
ausgerechnet mit Romeo Montague verheiratet bist? Die Leute glauben viel, aber
das ginge im Leben nicht in ihre Koepfe."
Julia nickte. "Mag sein. Also scheidet das aus: Bruder Lawrence hat keinen
Grund mich zu hintergehen. Bosheit ist es sicherlich nicht, schliesslich ist
er ein Priester und heiliger Mann."
"Heiliger Mann!", schnaubte Azzuro. "Hast du schon mal was von den Borghias
gehoert?"
"Sie sind glaube ich weitlaeufig mit mir verwandt. Allerdings habe ich sie
noch nie getroffen, sie leben in einer anderen Stadt." Sie sagte es so, wie
wir heute jemanden darueber aufklaeren, dass wir Verwandte in Australien
haben.
"Jedenfalls...Aua!" Azzuro verstummte und blickte Ulo verletzt an.
"Wisst ihr, das Schlimmste waere, wenn es nicht wirkt. Ich meine, was, wenn
ich morgen aufwache und heiraten muss?" Sie sah sich suchend im Zimmer um,
erblickte ein scharfes Handarbeitsmesser und wog es nachdenklich in der Hand.
"Na, ehe ich Paris heirate..."
"Das gaebe eine ziemliche Schweinerei." Ulo schuettelte es allein bei dem
Gedanken daran.
"Besser als Paris heiraten.", versetzte Julia scharf.
"Schon gut, schon gut." Ulo musste ihr wider Willen zustimmen.
"Wenn nur mein Vater nicht in letzter Minute noch den Termin vorgezogen
haette."
"Was soll daran so schlimm sein?", fragte Azzuro. "Du trinkst das Zeug einfach
einen Tag frueher."
"Und wenn Romeo den Brief nicht rechtzeitig bekommt? Bruder Lawrence hat ihn
losgeschickt, aber man weiss ja, wie langsam Klosterbrueder voran kommen, wenn
sie auf Reisen sind."
"Allzu viele Weinstuben gibt es auf dem Weg nach Mantua nicht.", beruhigte Ulo
sie.
"Trotzdem. Mich graust es bei dem Gedanken an diese staubige Gruft. Luftdicht
ist gut, wenn man den Gestank drinnen halten will, aber wenn ich darin bin..."
"Du wirst es ueberleben." Azzuro versuchte, seiner Stimme einen beruhigenden
Klang zu geben.
"Vielleicht waere das gar nicht so gut. Ich habe schreckliche Angst davor, da
drinnen aufzuwachen. Am Ende werde ich wahnsinnig." Ihr Laecheln verschwand
und machte einem bitteren Ausdruck Platz. "Das waere schlimmer als sterben."
Ulo versuchte, sie zu troesten. "Du wuerdest es nicht merken."
Julia nickte. "Vermutlich." Sie zog die Nase kraus und dachte nach. "Sagt mal,
stimmt es, dass die Toten in der Gruft..." Sie zoegerte. "Ihr wisst schon...
Es heisst, das es einige Tage dauert, bis sich der Tote mit seinem ...Platz
abgefunden hat."
"Woher sollen wir das wissen? Wir waren noch nicht tot." Azzuro zuckte die
Schultern. "Es gibt da so etwas wie Gase, die noch rumoren, aber vielleicht
ist das auch nur ein Geruecht."
Julia dachte mit Grausen an Tybalt. "Ob ich Geister sehen werde? Tybalt
vielleicht, der Romeo sucht und ihn nicht findet? Wenn er dann mit mir Vorlieb
nimmt?" Sie schuettelte sich.
"Du wirst schlafen." Ulo liess sich auf Julias Schulter nieder und strich ihr
sanft mit dem Kopfgefieder ueber die Wange.
"Das kitzelt." Julia kicherte, dann wurde sie wieder ernst. "Ich habe so viel
darueber gehoert, was nachts auf Friedhoefen vorgeht. Manchmal hoert man die
Toten entsetzlich schreien, heisst es."
"Das sind bloss Katzen." Azzuro hatte die riesigen Tiere gesehen, die auf der
Suche nach Ratten ueber die Graeber huschten und die Liebespaare stoerten,
fuer die der Friedhof der einzige wirklich ungestoerte Ort war.
"Wenn du es sagst.", meinte Julia zweifelnd. "Naja, wahrscheinlich hat es
keinen Sinn, es noch laenger hinauszuschieben." Sie hob die Phiole. "Prost,
ihr beiden. Falls ich es selbst nicht kann, gruesst Romeo von mir."
Ulo huepfte zur Seite, als Julia niedersank. "Jetzt hat sie zumindest ihre
Ruhe."
"Sie haette es wirklich in Wein nehmen koennen.", murrte Azzuro.