| DER DRITTE AKT |
| DIE ERSTE SZENE |
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| Benevolio wischte sich den Schweiss von der Stirn und sah ungluecklich zu |
| Mercutio hinueber, der mit hochrotem Gesicht neben ihm hermarschierte. "Es ist |
| zu heiss, um hier draussen herumzulaufen, Mercutio. Ausserdem sind die |
| Capuleten los." |
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| "Angst?", fragte Mercutio. |
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| "Nein, aber es ist zu warm fuer Pruegeleien." |
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| "Huch?" Mercutio legte Benevolio die Hand an die Stirn. "Du bist doch nicht |
| etwa krank? Sonst gibt es doch nichts, was dich von einer zuenftigen Pruegelei |
| abhalten kann." |
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| Wieder zueckte Benevolio sein Taschentuch. "Doch, Hitze." |
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| "Ach, komm schon, ausgerechnet du willst jetzt ins Haus!" |
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| "Wieso ausgerechnet ich?" |
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| "Na, sonst beguckst du dir dein Messer und sagst: 'Walte Hugo, dass ich dich |
| nur zum essen brauche.' Und zwar laut und vernehmlich, damit es auch ja jeder |
| Raufbold hoert und weiss, dass du auf Streit aus bist." |
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| "So schlimm bin ich doch gar nicht." |
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| Haette Mercutio ueber unsere Welt Bescheid gewusst, so haette er Benevolio |
| sicherlich als Grossmacht bezeichnet, denn nur Grossmaechte sind in der Lage, |
| Waffen in Sichtweite anderer Grossmaechte aufzustellen und mit unbewegtem |
| Gesicht zu sagen: "Wir brauchen diese Waffen eigentlich gar nicht, weil wir ja |
| friedlich sind, wir wollen sie euch nur zeigen, weil sie so huebsch sind." |
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| "Nein, natuerlich nicht. Erinnerst du dich noch an den Kerl, den du verhauen |
| hast, weil er an deiner Rose roch?" |
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| "Das musste ich doch! Rose ist ein anstaendiges Maedchen." |
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| "Ich meine nicht die Rose in deinem Bett, sondern die in eurem Vorgarten." |
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| "Hmpf.", machte Benevolio. |
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| In Mercutios Augen tanzten kleine Teufelchen, als er seinen Blick ueber den |
| Platz schweifen liess. "Guck mal, da ist Tybalt." |
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| "Uh-oh." |
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| Tybalt trat auf die beiden zu und grinste hoehnisch, als er Benevolios |
| schweissueberstroemtes Gesicht sah. "Wie sagte meine Grossmutter so treffend: |
| 'Schlechtes Fleisch schaeumt.'" |
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| Benevolio wandte sich zum Gehen. "Komm, Mercutio, hier heult ein Wolf den Mond |
| an, das ist mir zu laut." |
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| "Mitnichten, Benevolio, wenn der gute Tybalt etwas von uns will, soll er fuer |
| uns tanzen." |
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| "Was fuer eine praechtige Hochzeitsfeier.", kommentierte Azzuro bitter. |
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| "So sind die Menschen." Ulo war nachsichtig und milde gestimmt. |
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| Mercutio fischte in seiner Hosentasche nach einer Muenze, die er Tybalt |
| zuwarf. "Mach Faxen, Alter." |
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| "Faxen kannst du haben!" Nun schaeumte auch Tybalt. |
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| Benevolio hob die Hand. "Beherrscht euch. Mitten auf der Strasse zu kaempfen |
| ist aeusserst unfein. Da gehoert doch eine Wiese im Morgengrauen und ein |
| stilvoller Nebel dazu." |
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| "Ach, Nebel." Mercutio wollte sich so leicht nicht ablenken lassen. "Ich hau |
| Tybalt auch ohne Nebel meinen Saebel um die Ohren." |
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| "Hier guckt dir jeder zu, Mercutio." |
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| "Na, vielleicht lernen sie ja noch was. Genau wie ich Tybalt lehren werde." |
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| Romeo betrat den Platz mit einem unirdischen Strahlen auf dem Gesicht. Sie |
| wissen schon: Das Strahlen, das man bei Menschen sehen kann, die gerade ein |
| besonders exotisches Pilzragout gegessen haben und feststellen, dass es ihnen |
| wider Erwarten gut - allzu gut - bekommt. "Guten Tag, ihr lieben, goldigen |
| Menschen!" |
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| Tybalt bedachte Romeo mit einem Blick, der fuer gewoehnlich seltenen und |
| abstossenden Kaefern vorbehalten bleibt. "Lieb?" |
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| Auch Mercutio sah seinen Freund interessiert an, allerdings glich sein Blick |
| mehr dem eines Biologen. "Lieb. Hat er gesagt. Und goldig." |
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| Azzuro schuettelte sich. "Warte nur ab, bis ihm klar wird, dass ihn Julia |
| jetzt am Haken hat. Dann ist Schluss mit lustig." |
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| Ulo stiess ihren Gefaehrten an. "Auch wenn du es nicht fuer moeglich haeltst, |
| er ist gluecklich." |
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| "Noch." |
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| Tybalt ueberwand seine Verwirrung als erster und gab sich alle Muehe, seiner |
| Aufgabe als Schurke dieser Geschichte gerecht zu werden. "Hund, elender!" |
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| Romeo, immer noch mit dem seligen Gesichtsausdruck, laechelte Tybalt an. "Ach, |
| Tybalt, du ahnst ja nicht, wie gern ich dich habe." |
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| Ulo zog die Brauen hoch. "Auf einmal?" |
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| "Familienpflichten." Azzuro kannte diese Sitte, die verhindern sollte, dass |
| sich Gefaehrten eines Rudels an die Kehle gehen, auch wenn die |
| Rudelangehoerigen noch so widerlich sind. Formulieren wir es anders: Sie haben |
| schon als kleines Kind gelernt, dass Sie Ihre Tante auch dann nicht vors |
| Schienbein treten duerfen, wenn sie Ihnen noch so oft unerwuenschte Kuesse |
| verpasst. Viele Menschen zahlen teure Sitzungen bei Psychotherapeuten um ihrer |
| uebertragenen Tante endlich einmal - ohne mit schaerfsten Sanktionen belegt zu |
| werden - sagen zu koennen, dass sie nicht gekuesst werden wollen. |
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| Tybalt, der sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte, schenkte Romeo |
| ein zuckersuesses Laecheln. "Du hast wohl das Ufer gewechselt? Willst mich |
| beleidigen, indem du mir unterstellst, ich..." Er brach ab und streichelte |
| erwartungsvoll seinen Degen. |
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| "Aber nein!" Romeo, der offensichtlich Tybalts Ziel nicht erkennen wollte, |
| strahlte weiterhin um die Wette. "Du kennst mich eben nicht, Tybalt Capulet, |
| sonst wuesstest du, dass ich dich ebenso gern habe wie mich selbst." |
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| Mercutio stoehnte. "Himmel, hilf, er ist unter die Betbrueder gegangen!" Er |
| zog blank. "Aber wenn Romeo selbst die Beleidigung nicht raechen will, dann |
| lasse ich ihn nicht im Regen stehen. Zieh, Tybalt!" |
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| "Hoert auf." Romeo rang die Haende. "Ihr wisst doch, dass der Fuerst uns das |
| verboten hat!" |
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| Tybalt schien Mercutio jetzt erst zu bemerken. "Was willst du denn?", fragte |
| er in einem Tonfall, den manche Menschen kleinen Kindern und Hunden |
| vorbehalten. |
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| "Dein Leben. Oder wenigstens ein ansehnliches Stueck davon." |
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| "Das musst du dir erst holen!" Tybalts Degen schien ploetzlich Fluegel |
| bekommen zu haben, anders liess sich das Tempo nicht erklaeren, mit dem er |
| seiner Scheide ledig wurde. |
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| Nun sind wir an der Stelle angelangt, an der jeder Autor die Grenzen des |
| Papiers verflucht und sich fragt, ob er nicht doch lieber Drehbuecher |
| schreiben sollte. Oder die Tintenkleckserei ganz an den Nagel haengen und |
| vielleicht einer ehrbaren Arbeit nachgehen sollte, die - abgesehen von einem |
| regelmaessigen Einkommen - noch den Ruf der Unstetigkeit tilgt, der jeden |
| Schreiber (und jede Schreiberin - natuerlich habe ich das verstanden, Ulo) in |
| die Naehe des Bahnhofsviertels rueckt. Dem Papier fehlt, trotz seiner bereits |
| sprichwoertlichen Geduld, die Faehigkeit, Ereignisse, die sich in Bruchteilen |
| von Sekunden abspielen, in angemessen kurzer Zeit wiederzugeben. Und das ist |
| keine versteckte Beleidigung meiner LeserInnen. |
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| Stellen Sie sich also vor, sie stuenden in einer Disko. Vor Ihnen ist die |
| Tanzflaeche, die Sie nur daran erkennen, dass keine Tische darauf stehen. Ihr |
| Magen macht eigenartige Huepfbewegungen und wenn Sie sich konzentrieren, |
| koennen Sie erkennen, dass die Huepferei im Takt zum Wummern der |
| Basslautsprecher erfolgt. Messerscharf folgern Sie, dass die Musik (?) fuer |
| die zuckenden Bewegungen Ihrer Innereien verantwortlich ist und nicht etwa das |
| Chili con Carne von gestern abend. Im Stroboskoplicht, dass die Tanzflaeche |
| beleuchtet, zucken einzelne Glieder durcheinander: Hier ein Arm, dort ein |
| Bein, ein Stueckchen weiter eine wehende Haarmaehne und dazwischen vielleicht |
| noch ein heller Fleck, der ein Gesicht sein koennte. Die Eindruecke folgen zu |
| schnell aufeinander, als dass Sie die Glieder zaehlen koennten - ganz zu |
| schweigen davon, dass Sie aus Armen, Beinen, Haaren und Gesichtern ganze |
| Menschen konstruieren koennten. Also nehmen Sie die Bilder so hin, wie sie |
| Ihnen geboten werden. Es bleibt der Gedanke, dass Menschen zu Musik tanzen. |
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| Oder stellen Sie sich einen Film mit den Marx-Brothers vor. Erinnern Sie sich? |
| Es kam darin immer wieder zu Szenen, in denen sich die Brueder gegenseitig |
| Torten in die Gesichter warfen oder Ohrfeigen austeilten. Schnelle Schnitte |
| anstelle von Schwenks zeigten die Geschwindigkeit, in der das Geschehen |
| passierte. |
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| Nachdem es also keine echte Moeglichkeit gibt, Ihnen das Tempo der Ereignisse |
| der naechsten paar Minuten auf jenem Platz in Verona zu vermitteln, erlauben |
| Sie mir, das Papier zu zerschneiden und Ihnen die Situation in Schnippseln zu |
| praesentieren. Ganz so, als stuenden Sie daneben und liessen Ihre Augen im |
| Takt der Ereignisse von einer Person zur naechsten huepfen, ohne die |
| Geschehnisse unbedingt miteinander zu verbinden. |
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| Romeos Augen weiten sich vor Schreck. "Nein! Steckt die Dinger weg!" |
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| Benevolio, nicht weniger entsetzt als sein Freund, zueckt den Degen um die |
| Waffen Tybalts und Mercutios herunterzuschlagen. |
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| Tybalt, der die Situation missversteht, fintet in Richtung Romeo, verfuehrt |
| damit Benevolio dazu, seinen Degen mit dem seinen zu binden. |
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| Azzuro flattert aufgeregt mit den Fluegeln. "Juch-hu!", kraeht er vergnuegt. |
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| Romeo gibt sich alle Muehe, Mercutio aus dem Gerangel fortzuziehen, erreicht |
| allerdings nur, dass Mercutio ihm eine saftige Ohrfeige verpasst. |
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| Ulo, die Romeo nicht an seinem Hochzeitstag tot sehen will, fliegt todesmutig |
| einen Sturzangriff auf Tybalt. |
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| Tybalt schlaegt nach dem schwarzen Schemen vor seinem Gesicht und lenkt damit |
| Mercutios Aufmerksamkeit wieder auf sich. |
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| Mercutio schuettelt Romeo ab und tritt Benevolio vors Schienbein, der Tybalt |
| Ulo ueberlaesst. |
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| Azzuro hat erfolgreich einen Stein in die Klauen genommen und laesst ihn |
| Benevolio auf den Kopf fallen. |
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| Benevolio, von dem Stein zwar nicht hart getroffen, wohl aber aus dem |
| Gleichgewicht gebracht, laesst Mercutios Arm los. |
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| Mercutio, der sich gerade von Benevolio losreissen wollte, bekommt zuviel |
| Schwung und rempelt Romeo an. |
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| Romeo taumelt zur Seite. |
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| Tybalt wittert Morgenluft, macht einen schnellen Ausfallschritt und versenkt |
| seinen Degen in Mercutios Brust. |
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| Als Tybalt klar wurde, was er angerichtet hatte, nahm er die Beine in die |
| Hand. |
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| Stille. |
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| Stille! |
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| STILLE! |
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| Mercutio tastete mit zitternder Hand nach seiner Schulter. "Verdammte |
| Scheisse.", sagte er in die donnernde Stille hinein. Eine weisse Taube landete |
| weich neben ihm und schaute ihn so vorwurfsvoll an, dass Mercutio seine Worte |
| bedauerte. "Schon gut, ich lasse mir etwas besseres einfallen." |
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| "Damit sollte er sich besser beeilen.", raunte Azzuro Ulo zu. |
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| "Ist aber auch eine Schande, dass den Menschen so wenig Zeit bleibt, sich |
| wuerdevolle letzte Worte auszudenken." Ulo schniefte leise. |
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| Ein Leuchten huschte ueber Mercutios Gesicht, als ihm eine brauchbare Idee kam. |
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| "Ach, Romeo, waerest du nicht zwischen diesen Ba... Elenden und mich getreten, |
| ich haette mich nicht zurueckhalten muessen und sicherlich den Sieg |
| davongetragen!", stoehnte er angemessen feierlich. |
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| "Er traegt zu dick auf." Azzuro bekam den mordluesternen Blick, den man sonst |
| bei Kritikern beobachtet. |
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| Romeo, der aussergewoehnlich schnell erkannte, was von ihm erwartet wurde, |
| fiel neben seinem Freund auf die Knie. "Ich habs doch nur gut gemeint!" |
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| Azzuro oeffnete den Schnabel, doch die Taube warf ihm einen Blick zu, der |
| selbst einen Klatschspalten-Redakteur zum Schweigen gebracht haette. |
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| "...", sagte Mercutio und sein Kopf sank zur Seite. |
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| Romeo schluckte. "Ist er...?" |
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| Ulo liess sich auf seiner Schulter nieder und rieb sanft den Schnabel ueber |
| seine Wange. |
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| "Ja." |
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| "Und nur, weil er nicht wollte, dass ich beleidigt werde. Dabei wusste er doch |
| gar nicht, warum ich Tybalt in Ruhe liess." Er seufzte. "Ich liebe Julia, aber |
| um ihretwillen habe ich zugelassen, dass Mercutio fuer mich die |
| Unverschaemtheiten Tybalts bezahlte. Und jetzt hat er dafuer bezahlt. Ich habs |
| doch nur gut gemeint." Verzweifelt schuettelte er den Kopf. "Nur gut gemeint." |
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| Die weisse Taube legte den Kopf schief. Da Mercutio nun fuer die Menschen der |
| Mythenwelt tot war, durfte er das Ende der Geschichte eigentlich nicht mehr |
| mit ansehen, doch so wie ein Schauspieler den Rest der Vorstellung beobachten |
| und schliesslich mit seinen Kollegen gemeinsam vor dem Vorhang den Applaus des |
| Publikums in Empfang nehmen darf, blieb die Taube zurueck und gesellte sich |
| Ihnen und mir zu, die wir das Stueck beobachten, ohne selbst eingreifen zu |
| koennen. Die Taube ist fuer die Goetter der Mythenwelt, was die Diskette fuer |
| den Computer ist: Ein Speicher, der enthaelt, was erst spaeter wieder |
| gebraucht wird. Obwohl CD-ROM wahrscheinlich ein besseres Wort waere, denn bei |
| der naechsten Auffuehrung dieser Geschichte wird Mercutio wieder ganz der Alte |
| sein, er wird nichts gelernt haben, keine Veraenderung erfahren. |
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| Benevolio beruehrte Romeo an der Schulter. "Tybalt." |
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| Romeo sprang auf wie von der Tarantel gestochen. "Na warte, der soll bezahlen! |
| Er laeuft hier herum, als waere nichts passiert, waehrend Mercutio, der |
| immerhin mit unserem Fuersten verwandt ist..." Er brach ab und zueckte seinen |
| Degen. "Komm her, Tybalt, jetzt sollst du sehen, was du davon hast, meinen |
| Freund umzubringen!" Halten wir Romeo zugute, dass er im Affekt handelt und |
| keine boese Absicht hinter seiner Entscheidung zur Lynchjustiz steckt. Er |
| ficht mit Tybalt und wir wollen uns eine genaue Beschreibung der einzelnen |
| Schritte, Hiebe und Stiche ersparen - nicht nur, weil ich vom Fechten nichts |
| verstehe, sondern auch, weil ich diejenigen unter Ihnen, die davon ebenfalls |
| keine Ahnung haben, nicht langweilen moechte. Erzaehlen wir also die Szene so |
| kurz als moeglich: Romeo und Tybalt fechten miteinander und Tybalts Taube |
| gesellt sich zu Mercutios. |
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| Fragen Sie mich jetzt nicht, warum die Tauben die Koepfe zusammenstecken, es |
| hat jedenfalls mit unserer Geschichte nichts zu tun. Hoffentlich. |
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| Benevolio sah das Verhaengnis in Gestalt aufgebrachter Polizisten nahen. |
| "Mach, dass du wegkommst, Romeo!" |
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| Romeo, der noch versuchte, seinen Degen aus Tybalts Leiche zu ziehen, fluchte. |
| "Hilf mir doch bei dem Ding." |
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| Benevolio schuettelte den Kopf. "Los, du hast keine Zeit zu verlieren. Wenn |
| die Polizei dich erwischt, hast du es genauso hinter dir wie die beiden hier." |
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| Romeo, der die ganze Tragweite der Geschehnisse jetzt erst begriff, nickte und |
| rannte los. |
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| Keine Seuche kann sich schneller ausbreiten als die Nachricht, dass es |
| irgendwo eine Leiche zu sehen gibt, doch selbst die Geschwindigkeit dieser |
| Nachricht ist nichts gegen das Tempo, mit dem Menschen herbeihasten, die einen |
| leibhaftigen Moerder sehen wollen. Nicht anders war es auch jetzt: Die Buerger |
| Veronas, sensationsluestern und blutgierig wie alle Menschen, flogen geradezu |
| auf den Platz. Aus dem vielstimmigen Geschrei und dem gierigen Glanz der Augen |
| liess sich ohne weiteres die Stimmung der Menge in einen einzigen Satz |
| kristallisieren: "Wo ist Tybalt, der Moerder?" |
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| Benevolio trat unbehaglich von einem Fuss auf den anderen, wie es die meisten |
| Leute taeten, die sich unversehens mit einem wuetigen Mob konfrontiert sehen. |
| Er deutete auf Tybalts Leiche. "Hier." |
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| Enttaeuschung breitete sich auf den Gesichtern aus. Fuer Benevolio schien es |
| jetzt unangenehm zu werden - er kannte so gut wie jeder andere den alten |
| Spruch, dass der schrecklichste aller Schrecken ein Menschenmob ohne Opfer |
| ist. Zu seinem grossen Glueck kamen jetzt Escalus und die Haeupter der Haeuser |
| Capulet und Montague zum Platz, die von ihrer Honoratiorenwuerde nur wenig |
| laenger zurueckgehalten worden waren als die anderen Buerger. |
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| Escalus schob sich durch die Menge wie ein Eisbrecher durch das Nordmeer und |
| baute sich vor Benevolio auf. "Also?" |
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| Benevolio wagte kaum zu atmen. Jeder auf dem Platz schien den Atem anzuhalten, |
| selbst Ulo und Azzuro hatte es einen Moment lang die Sprache verschlagen. |
| Schliesslich holte Benevolio Luft und dieser Atemzug entwickelte sich zu einem |
| kollektiven Seufzen. Er war sich unangenehm der Tatsache bewusst, dass aller |
| Augen auf ihm ruhten. |
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| "Aeh...", begann er. |
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| "Ja?" Escalusens Geduld glich dem Gummiband im Flugzeug eines kleinen Jungen. |
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| "Also, da war Mercutio. Und dann war da Tybalt. Und das Wetter war so heiss. |
| Und Tybalt wollte sich pruegeln. Ja. Und jetzt ist Mercutio tot. Und Tybalt." |
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| Frau Capulet, die aufgrund ihrer Erfahrung mit Polly Benevolios Saetze |
| schneller sortiert hatte, als irgend ein anderer auf dem Platz, schrie auf und |
| Rachedurst verzerrte ihre Gesichtszuege zu einer Fratze, die selbst eine |
| Medusa haette zu Stein erstarren lassen. "Tybalt! Oh, Tybalt!" Sie warf sich |
| an Escalusens Brust und trommelte mit den Faeusten auf ihn ein. "Ein Montague |
| hat meinen Verwandten erstochen!" Sie zerraufte sich hoechst dramatisch das |
| Haar. "Dafuer muss der Schuldige haengen!" |
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| Escalus wischte die Faeuste der Frau Capulet beiseite. "Wer hat denn |
| angefangen?", fragte er geduldig. |
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| Benevolio schluckte. "Tybalt. Und dann hat Romeo versucht, ihn und Mercutio zu |
| trennen. Er hat sogar gesagt, dass Sie es gar nicht gerne saehen, wenn die |
| beiden sich auf offener Strasse pruegelten." |
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| "Auf offener Strasse. Soso." |
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| Benevolio bemerkte, dass diese Aeusserung falsch ausgelegt werden konnte und |
| rang die Haende. "Tybalt wollte einfach nicht hoeren und hat nach Mercutio |
| gezielt. Naja, Mercutio ist nicht gerade sanft, wenn man ihn zu rasieren |
| versucht, und hat sich natuerlich gewehrt. Aber Tybalt war ein besserer |
| Fechter, deshalb wollten die beiden gerade maechtig losfechten, als Romeo sie |
| zu trennen versuchte. Noch mal zu trennen versuchte." Seine Rede hatte |
| Benevolio ganz atemlos gemacht und er holte tief Luft. "Mercutio stand hinter |
| Romeo und Tybalt vor ihm. Ja, und dann sticht Tybalt unter Romeos Arm durch |
| und erwischt Mercutio." |
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| "Und dann?" |
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| "Dann ist Tybalt weggelaufen, aber weil er Romeo nicht stehen lassen wollte, |
| kam er zurueck und Romeo sah rot. Tja, dann haben sie gefochten und Romeo hat |
| gewonnen. Alles so schnell, dass ich nicht dazwischen gehen konnte." |
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| "Und Romeo?" |
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| "Ist weg." |
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| Escalusens Gesicht hatte jenen Ausdruck, der Erwachsenen eigen ist, die den |
| Streit von Kindern aus deren Aussagen nachvollziehen wollen. Da die meisten |
| Kinder die Geschehnisse, die zu einem Streit fuehren, nicht unbedingt |
| folgerichtig wiedergeben, fuehrt der Versuch meistens dazu, dass Erwachsene |
| beide Kinder gleichermassen ermahnen, Frieden zu halten, gleich, wer der |
| Schuldige am Streit war. Dies jedoch hatte Escalus bereits versucht und er sah |
| sich am Ende seiner Moeglichkeiten. _Fussball_, dachte er, _ist_ _schoen_ |
| _und_ _gut_, _aber_ _was_ _soll_ _ich_ _machen_, _wenn_ _sie_ _sich_ _Spikes_ |
| _unter_ _die_ _Schuhe_ _machen_ _und_ _behaupten_, _sie_ _waeren_ _nur_ _aus_ |
| _Versehen_ _dem_ _andern_ _auf_ _den_ _Fuss_ _getreten_? _Was_ _sind_ |
| _eigentlich_ _Spikes_? |
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| Frau Capulet, die den nachdenklichen Gesichtsausdruck Escalusens als |
| Unsicherheit interpretierte, witterte Fruehlingsluft. "Ist doch vollkommen |
| gleichgueltig, wer angefangen hat! Benevolio ist Romeos Freund, da kann man |
| wohl kaum erwarten, dass er die Wahrheit aussagt." |
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| Escalus war sich der Befangenheit seines Zeugen durchaus bewusst, andererseits |
| wusste er nur zu genau, dass ein Gehenkter niemals ausreicht, den Blutdurst |
| des Mobs zu stillen. Er hob demonstrativ die Arme. "Tybalt hat Mercutio |
| erstochen, bevor er selbst erstochen wurde. Mir scheint, liebe Frau Capulet, |
| dass Romeo nur dem Rachewunsch der Familie Montague Genuege getan hat." |
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| Herr Montague zauderte nicht, in die gleiche Kerbe zu hauen. "Romeo haette |
| wohl die Arbeit Herrn Escalus ueberlassen sollen, aber er hat sicherlich im |
| Affekt gehandelt. War sozusagen nur Henker." |
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| Frau Capulet schnappte nach Luft. "Henker?" |
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| Escalus, dem die Situation zu entgleiten drohte, hob die Hand. "Schluss. Romeo |
| hat meine Gerichtshoheit untergraben. Also verbanne ich ihn. Fuer den Mord |
| will ich weiter keine Strafe verhaengen, weil ich Tybalt nicht anders |
| behandelt haette." |
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