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DER DRITTE AKT
DIE ERSTE SZENE
Benevolio wischte sich den Schweiss von der Stirn und sah ungluecklich zu
Mercutio hinueber, der mit hochrotem Gesicht neben ihm hermarschierte. "Es ist
zu heiss, um hier draussen herumzulaufen, Mercutio. Ausserdem sind die
Capuleten los."
"Angst?", fragte Mercutio.
"Nein, aber es ist zu warm fuer Pruegeleien."
"Huch?" Mercutio legte Benevolio die Hand an die Stirn. "Du bist doch nicht
etwa krank? Sonst gibt es doch nichts, was dich von einer zuenftigen Pruegelei
abhalten kann."
Wieder zueckte Benevolio sein Taschentuch. "Doch, Hitze."
"Ach, komm schon, ausgerechnet du willst jetzt ins Haus!"
"Wieso ausgerechnet ich?"
"Na, sonst beguckst du dir dein Messer und sagst: 'Walte Hugo, dass ich dich
nur zum essen brauche.' Und zwar laut und vernehmlich, damit es auch ja jeder
Raufbold hoert und weiss, dass du auf Streit aus bist."
"So schlimm bin ich doch gar nicht."
Haette Mercutio ueber unsere Welt Bescheid gewusst, so haette er Benevolio
sicherlich als Grossmacht bezeichnet, denn nur Grossmaechte sind in der Lage,
Waffen in Sichtweite anderer Grossmaechte aufzustellen und mit unbewegtem
Gesicht zu sagen: "Wir brauchen diese Waffen eigentlich gar nicht, weil wir ja
friedlich sind, wir wollen sie euch nur zeigen, weil sie so huebsch sind."
"Nein, natuerlich nicht. Erinnerst du dich noch an den Kerl, den du verhauen
hast, weil er an deiner Rose roch?"
"Das musste ich doch! Rose ist ein anstaendiges Maedchen."
"Ich meine nicht die Rose in deinem Bett, sondern die in eurem Vorgarten."
"Hmpf.", machte Benevolio.
In Mercutios Augen tanzten kleine Teufelchen, als er seinen Blick ueber den
Platz schweifen liess. "Guck mal, da ist Tybalt."
"Uh-oh."
Tybalt trat auf die beiden zu und grinste hoehnisch, als er Benevolios
schweissueberstroemtes Gesicht sah. "Wie sagte meine Grossmutter so treffend:
'Schlechtes Fleisch schaeumt.'"
Benevolio wandte sich zum Gehen. "Komm, Mercutio, hier heult ein Wolf den Mond
an, das ist mir zu laut."
"Mitnichten, Benevolio, wenn der gute Tybalt etwas von uns will, soll er fuer
uns tanzen."
"Was fuer eine praechtige Hochzeitsfeier.", kommentierte Azzuro bitter.
"So sind die Menschen." Ulo war nachsichtig und milde gestimmt.
Mercutio fischte in seiner Hosentasche nach einer Muenze, die er Tybalt
zuwarf. "Mach Faxen, Alter."
"Faxen kannst du haben!" Nun schaeumte auch Tybalt.
Benevolio hob die Hand. "Beherrscht euch. Mitten auf der Strasse zu kaempfen
ist aeusserst unfein. Da gehoert doch eine Wiese im Morgengrauen und ein
stilvoller Nebel dazu."
"Ach, Nebel." Mercutio wollte sich so leicht nicht ablenken lassen. "Ich hau
Tybalt auch ohne Nebel meinen Saebel um die Ohren."
"Hier guckt dir jeder zu, Mercutio."
"Na, vielleicht lernen sie ja noch was. Genau wie ich Tybalt lehren werde."
Romeo betrat den Platz mit einem unirdischen Strahlen auf dem Gesicht. Sie
wissen schon: Das Strahlen, das man bei Menschen sehen kann, die gerade ein
besonders exotisches Pilzragout gegessen haben und feststellen, dass es ihnen
wider Erwarten gut - allzu gut - bekommt. "Guten Tag, ihr lieben, goldigen
Menschen!"
Tybalt bedachte Romeo mit einem Blick, der fuer gewoehnlich seltenen und
abstossenden Kaefern vorbehalten bleibt. "Lieb?"
Auch Mercutio sah seinen Freund interessiert an, allerdings glich sein Blick
mehr dem eines Biologen. "Lieb. Hat er gesagt. Und goldig."
Azzuro schuettelte sich. "Warte nur ab, bis ihm klar wird, dass ihn Julia
jetzt am Haken hat. Dann ist Schluss mit lustig."
Ulo stiess ihren Gefaehrten an. "Auch wenn du es nicht fuer moeglich haeltst,
er ist gluecklich."
"Noch."
Tybalt ueberwand seine Verwirrung als erster und gab sich alle Muehe, seiner
Aufgabe als Schurke dieser Geschichte gerecht zu werden. "Hund, elender!"
Romeo, immer noch mit dem seligen Gesichtsausdruck, laechelte Tybalt an. "Ach,
Tybalt, du ahnst ja nicht, wie gern ich dich habe."
Ulo zog die Brauen hoch. "Auf einmal?"
"Familienpflichten." Azzuro kannte diese Sitte, die verhindern sollte, dass
sich Gefaehrten eines Rudels an die Kehle gehen, auch wenn die
Rudelangehoerigen noch so widerlich sind. Formulieren wir es anders: Sie haben
schon als kleines Kind gelernt, dass Sie Ihre Tante auch dann nicht vors
Schienbein treten duerfen, wenn sie Ihnen noch so oft unerwuenschte Kuesse
verpasst. Viele Menschen zahlen teure Sitzungen bei Psychotherapeuten um ihrer
uebertragenen Tante endlich einmal - ohne mit schaerfsten Sanktionen belegt zu
werden - sagen zu koennen, dass sie nicht gekuesst werden wollen.
Tybalt, der sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte, schenkte Romeo
ein zuckersuesses Laecheln. "Du hast wohl das Ufer gewechselt? Willst mich
beleidigen, indem du mir unterstellst, ich..." Er brach ab und streichelte
erwartungsvoll seinen Degen.
"Aber nein!" Romeo, der offensichtlich Tybalts Ziel nicht erkennen wollte,
strahlte weiterhin um die Wette. "Du kennst mich eben nicht, Tybalt Capulet,
sonst wuesstest du, dass ich dich ebenso gern habe wie mich selbst."
Mercutio stoehnte. "Himmel, hilf, er ist unter die Betbrueder gegangen!" Er
zog blank. "Aber wenn Romeo selbst die Beleidigung nicht raechen will, dann
lasse ich ihn nicht im Regen stehen. Zieh, Tybalt!"
"Hoert auf." Romeo rang die Haende. "Ihr wisst doch, dass der Fuerst uns das
verboten hat!"
Tybalt schien Mercutio jetzt erst zu bemerken. "Was willst du denn?", fragte
er in einem Tonfall, den manche Menschen kleinen Kindern und Hunden
vorbehalten.
"Dein Leben. Oder wenigstens ein ansehnliches Stueck davon."
"Das musst du dir erst holen!" Tybalts Degen schien ploetzlich Fluegel
bekommen zu haben, anders liess sich das Tempo nicht erklaeren, mit dem er
seiner Scheide ledig wurde.
Nun sind wir an der Stelle angelangt, an der jeder Autor die Grenzen des
Papiers verflucht und sich fragt, ob er nicht doch lieber Drehbuecher
schreiben sollte. Oder die Tintenkleckserei ganz an den Nagel haengen und
vielleicht einer ehrbaren Arbeit nachgehen sollte, die - abgesehen von einem
regelmaessigen Einkommen - noch den Ruf der Unstetigkeit tilgt, der jeden
Schreiber (und jede Schreiberin - natuerlich habe ich das verstanden, Ulo) in
die Naehe des Bahnhofsviertels rueckt. Dem Papier fehlt, trotz seiner bereits
sprichwoertlichen Geduld, die Faehigkeit, Ereignisse, die sich in Bruchteilen
von Sekunden abspielen, in angemessen kurzer Zeit wiederzugeben. Und das ist
keine versteckte Beleidigung meiner LeserInnen.
Stellen Sie sich also vor, sie stuenden in einer Disko. Vor Ihnen ist die
Tanzflaeche, die Sie nur daran erkennen, dass keine Tische darauf stehen. Ihr
Magen macht eigenartige Huepfbewegungen und wenn Sie sich konzentrieren,
koennen Sie erkennen, dass die Huepferei im Takt zum Wummern der
Basslautsprecher erfolgt. Messerscharf folgern Sie, dass die Musik (?) fuer
die zuckenden Bewegungen Ihrer Innereien verantwortlich ist und nicht etwa das
Chili con Carne von gestern abend. Im Stroboskoplicht, dass die Tanzflaeche
beleuchtet, zucken einzelne Glieder durcheinander: Hier ein Arm, dort ein
Bein, ein Stueckchen weiter eine wehende Haarmaehne und dazwischen vielleicht
noch ein heller Fleck, der ein Gesicht sein koennte. Die Eindruecke folgen zu
schnell aufeinander, als dass Sie die Glieder zaehlen koennten - ganz zu
schweigen davon, dass Sie aus Armen, Beinen, Haaren und Gesichtern ganze
Menschen konstruieren koennten. Also nehmen Sie die Bilder so hin, wie sie
Ihnen geboten werden. Es bleibt der Gedanke, dass Menschen zu Musik tanzen.
Oder stellen Sie sich einen Film mit den Marx-Brothers vor. Erinnern Sie sich?
Es kam darin immer wieder zu Szenen, in denen sich die Brueder gegenseitig
Torten in die Gesichter warfen oder Ohrfeigen austeilten. Schnelle Schnitte
anstelle von Schwenks zeigten die Geschwindigkeit, in der das Geschehen
passierte.
Nachdem es also keine echte Moeglichkeit gibt, Ihnen das Tempo der Ereignisse
der naechsten paar Minuten auf jenem Platz in Verona zu vermitteln, erlauben
Sie mir, das Papier zu zerschneiden und Ihnen die Situation in Schnippseln zu
praesentieren. Ganz so, als stuenden Sie daneben und liessen Ihre Augen im
Takt der Ereignisse von einer Person zur naechsten huepfen, ohne die
Geschehnisse unbedingt miteinander zu verbinden.
Romeos Augen weiten sich vor Schreck. "Nein! Steckt die Dinger weg!"
Benevolio, nicht weniger entsetzt als sein Freund, zueckt den Degen um die
Waffen Tybalts und Mercutios herunterzuschlagen.
Tybalt, der die Situation missversteht, fintet in Richtung Romeo, verfuehrt
damit Benevolio dazu, seinen Degen mit dem seinen zu binden.
Azzuro flattert aufgeregt mit den Fluegeln. "Juch-hu!", kraeht er vergnuegt.
Romeo gibt sich alle Muehe, Mercutio aus dem Gerangel fortzuziehen, erreicht
allerdings nur, dass Mercutio ihm eine saftige Ohrfeige verpasst.
Ulo, die Romeo nicht an seinem Hochzeitstag tot sehen will, fliegt todesmutig
einen Sturzangriff auf Tybalt.
Tybalt schlaegt nach dem schwarzen Schemen vor seinem Gesicht und lenkt damit
Mercutios Aufmerksamkeit wieder auf sich.
Mercutio schuettelt Romeo ab und tritt Benevolio vors Schienbein, der Tybalt
Ulo ueberlaesst.
Azzuro hat erfolgreich einen Stein in die Klauen genommen und laesst ihn
Benevolio auf den Kopf fallen.
Benevolio, von dem Stein zwar nicht hart getroffen, wohl aber aus dem
Gleichgewicht gebracht, laesst Mercutios Arm los.
Mercutio, der sich gerade von Benevolio losreissen wollte, bekommt zuviel
Schwung und rempelt Romeo an.
Romeo taumelt zur Seite.
Tybalt wittert Morgenluft, macht einen schnellen Ausfallschritt und versenkt
seinen Degen in Mercutios Brust.
Als Tybalt klar wurde, was er angerichtet hatte, nahm er die Beine in die
Hand.
Stille.
Stille!
STILLE!
Mercutio tastete mit zitternder Hand nach seiner Schulter. "Verdammte
Scheisse.", sagte er in die donnernde Stille hinein. Eine weisse Taube landete
weich neben ihm und schaute ihn so vorwurfsvoll an, dass Mercutio seine Worte
bedauerte. "Schon gut, ich lasse mir etwas besseres einfallen."
"Damit sollte er sich besser beeilen.", raunte Azzuro Ulo zu.
"Ist aber auch eine Schande, dass den Menschen so wenig Zeit bleibt, sich
wuerdevolle letzte Worte auszudenken." Ulo schniefte leise.
Ein Leuchten huschte ueber Mercutios Gesicht, als ihm eine brauchbare Idee kam.
"Ach, Romeo, waerest du nicht zwischen diesen Ba... Elenden und mich getreten,
ich haette mich nicht zurueckhalten muessen und sicherlich den Sieg
davongetragen!", stoehnte er angemessen feierlich.
"Er traegt zu dick auf." Azzuro bekam den mordluesternen Blick, den man sonst
bei Kritikern beobachtet.
Romeo, der aussergewoehnlich schnell erkannte, was von ihm erwartet wurde,
fiel neben seinem Freund auf die Knie. "Ich habs doch nur gut gemeint!"
Azzuro oeffnete den Schnabel, doch die Taube warf ihm einen Blick zu, der
selbst einen Klatschspalten-Redakteur zum Schweigen gebracht haette.
"...", sagte Mercutio und sein Kopf sank zur Seite.
Romeo schluckte. "Ist er...?"
Ulo liess sich auf seiner Schulter nieder und rieb sanft den Schnabel ueber
seine Wange.
"Ja."
"Und nur, weil er nicht wollte, dass ich beleidigt werde. Dabei wusste er doch
gar nicht, warum ich Tybalt in Ruhe liess." Er seufzte. "Ich liebe Julia, aber
um ihretwillen habe ich zugelassen, dass Mercutio fuer mich die
Unverschaemtheiten Tybalts bezahlte. Und jetzt hat er dafuer bezahlt. Ich habs
doch nur gut gemeint." Verzweifelt schuettelte er den Kopf. "Nur gut gemeint."
Die weisse Taube legte den Kopf schief. Da Mercutio nun fuer die Menschen der
Mythenwelt tot war, durfte er das Ende der Geschichte eigentlich nicht mehr
mit ansehen, doch so wie ein Schauspieler den Rest der Vorstellung beobachten
und schliesslich mit seinen Kollegen gemeinsam vor dem Vorhang den Applaus des
Publikums in Empfang nehmen darf, blieb die Taube zurueck und gesellte sich
Ihnen und mir zu, die wir das Stueck beobachten, ohne selbst eingreifen zu
koennen. Die Taube ist fuer die Goetter der Mythenwelt, was die Diskette fuer
den Computer ist: Ein Speicher, der enthaelt, was erst spaeter wieder
gebraucht wird. Obwohl CD-ROM wahrscheinlich ein besseres Wort waere, denn bei
der naechsten Auffuehrung dieser Geschichte wird Mercutio wieder ganz der Alte
sein, er wird nichts gelernt haben, keine Veraenderung erfahren.
Benevolio beruehrte Romeo an der Schulter. "Tybalt."
Romeo sprang auf wie von der Tarantel gestochen. "Na warte, der soll bezahlen!
Er laeuft hier herum, als waere nichts passiert, waehrend Mercutio, der
immerhin mit unserem Fuersten verwandt ist..." Er brach ab und zueckte seinen
Degen. "Komm her, Tybalt, jetzt sollst du sehen, was du davon hast, meinen
Freund umzubringen!" Halten wir Romeo zugute, dass er im Affekt handelt und
keine boese Absicht hinter seiner Entscheidung zur Lynchjustiz steckt. Er
ficht mit Tybalt und wir wollen uns eine genaue Beschreibung der einzelnen
Schritte, Hiebe und Stiche ersparen - nicht nur, weil ich vom Fechten nichts
verstehe, sondern auch, weil ich diejenigen unter Ihnen, die davon ebenfalls
keine Ahnung haben, nicht langweilen moechte. Erzaehlen wir also die Szene so
kurz als moeglich: Romeo und Tybalt fechten miteinander und Tybalts Taube
gesellt sich zu Mercutios.
Fragen Sie mich jetzt nicht, warum die Tauben die Koepfe zusammenstecken, es
hat jedenfalls mit unserer Geschichte nichts zu tun. Hoffentlich.
Benevolio sah das Verhaengnis in Gestalt aufgebrachter Polizisten nahen.
"Mach, dass du wegkommst, Romeo!"
Romeo, der noch versuchte, seinen Degen aus Tybalts Leiche zu ziehen, fluchte.
"Hilf mir doch bei dem Ding."
Benevolio schuettelte den Kopf. "Los, du hast keine Zeit zu verlieren. Wenn
die Polizei dich erwischt, hast du es genauso hinter dir wie die beiden hier."
Romeo, der die ganze Tragweite der Geschehnisse jetzt erst begriff, nickte und
rannte los.
Keine Seuche kann sich schneller ausbreiten als die Nachricht, dass es
irgendwo eine Leiche zu sehen gibt, doch selbst die Geschwindigkeit dieser
Nachricht ist nichts gegen das Tempo, mit dem Menschen herbeihasten, die einen
leibhaftigen Moerder sehen wollen. Nicht anders war es auch jetzt: Die Buerger
Veronas, sensationsluestern und blutgierig wie alle Menschen, flogen geradezu
auf den Platz. Aus dem vielstimmigen Geschrei und dem gierigen Glanz der Augen
liess sich ohne weiteres die Stimmung der Menge in einen einzigen Satz
kristallisieren: "Wo ist Tybalt, der Moerder?"
Benevolio trat unbehaglich von einem Fuss auf den anderen, wie es die meisten
Leute taeten, die sich unversehens mit einem wuetigen Mob konfrontiert sehen.
Er deutete auf Tybalts Leiche. "Hier."
Enttaeuschung breitete sich auf den Gesichtern aus. Fuer Benevolio schien es
jetzt unangenehm zu werden - er kannte so gut wie jeder andere den alten
Spruch, dass der schrecklichste aller Schrecken ein Menschenmob ohne Opfer
ist. Zu seinem grossen Glueck kamen jetzt Escalus und die Haeupter der Haeuser
Capulet und Montague zum Platz, die von ihrer Honoratiorenwuerde nur wenig
laenger zurueckgehalten worden waren als die anderen Buerger.
Escalus schob sich durch die Menge wie ein Eisbrecher durch das Nordmeer und
baute sich vor Benevolio auf. "Also?"
Benevolio wagte kaum zu atmen. Jeder auf dem Platz schien den Atem anzuhalten,
selbst Ulo und Azzuro hatte es einen Moment lang die Sprache verschlagen.
Schliesslich holte Benevolio Luft und dieser Atemzug entwickelte sich zu einem
kollektiven Seufzen. Er war sich unangenehm der Tatsache bewusst, dass aller
Augen auf ihm ruhten.
"Aeh...", begann er.
"Ja?" Escalusens Geduld glich dem Gummiband im Flugzeug eines kleinen Jungen.
"Also, da war Mercutio. Und dann war da Tybalt. Und das Wetter war so heiss.
Und Tybalt wollte sich pruegeln. Ja. Und jetzt ist Mercutio tot. Und Tybalt."
Frau Capulet, die aufgrund ihrer Erfahrung mit Polly Benevolios Saetze
schneller sortiert hatte, als irgend ein anderer auf dem Platz, schrie auf und
Rachedurst verzerrte ihre Gesichtszuege zu einer Fratze, die selbst eine
Medusa haette zu Stein erstarren lassen. "Tybalt! Oh, Tybalt!" Sie warf sich
an Escalusens Brust und trommelte mit den Faeusten auf ihn ein. "Ein Montague
hat meinen Verwandten erstochen!" Sie zerraufte sich hoechst dramatisch das
Haar. "Dafuer muss der Schuldige haengen!"
Escalus wischte die Faeuste der Frau Capulet beiseite. "Wer hat denn
angefangen?", fragte er geduldig.
Benevolio schluckte. "Tybalt. Und dann hat Romeo versucht, ihn und Mercutio zu
trennen. Er hat sogar gesagt, dass Sie es gar nicht gerne saehen, wenn die
beiden sich auf offener Strasse pruegelten."
"Auf offener Strasse. Soso."
Benevolio bemerkte, dass diese Aeusserung falsch ausgelegt werden konnte und
rang die Haende. "Tybalt wollte einfach nicht hoeren und hat nach Mercutio
gezielt. Naja, Mercutio ist nicht gerade sanft, wenn man ihn zu rasieren
versucht, und hat sich natuerlich gewehrt. Aber Tybalt war ein besserer
Fechter, deshalb wollten die beiden gerade maechtig losfechten, als Romeo sie
zu trennen versuchte. Noch mal zu trennen versuchte." Seine Rede hatte
Benevolio ganz atemlos gemacht und er holte tief Luft. "Mercutio stand hinter
Romeo und Tybalt vor ihm. Ja, und dann sticht Tybalt unter Romeos Arm durch
und erwischt Mercutio."
"Und dann?"
"Dann ist Tybalt weggelaufen, aber weil er Romeo nicht stehen lassen wollte,
kam er zurueck und Romeo sah rot. Tja, dann haben sie gefochten und Romeo hat
gewonnen. Alles so schnell, dass ich nicht dazwischen gehen konnte."
"Und Romeo?"
"Ist weg."
Escalusens Gesicht hatte jenen Ausdruck, der Erwachsenen eigen ist, die den
Streit von Kindern aus deren Aussagen nachvollziehen wollen. Da die meisten
Kinder die Geschehnisse, die zu einem Streit fuehren, nicht unbedingt
folgerichtig wiedergeben, fuehrt der Versuch meistens dazu, dass Erwachsene
beide Kinder gleichermassen ermahnen, Frieden zu halten, gleich, wer der
Schuldige am Streit war. Dies jedoch hatte Escalus bereits versucht und er sah
sich am Ende seiner Moeglichkeiten. _Fussball_, dachte er, _ist_ _schoen_
_und_ _gut_, _aber_ _was_ _soll_ _ich_ _machen_, _wenn_ _sie_ _sich_ _Spikes_
_unter_ _die_ _Schuhe_ _machen_ _und_ _behaupten_, _sie_ _waeren_ _nur_ _aus_
_Versehen_ _dem_ _andern_ _auf_ _den_ _Fuss_ _getreten_? _Was_ _sind_
_eigentlich_ _Spikes_?
Frau Capulet, die den nachdenklichen Gesichtsausdruck Escalusens als
Unsicherheit interpretierte, witterte Fruehlingsluft. "Ist doch vollkommen
gleichgueltig, wer angefangen hat! Benevolio ist Romeos Freund, da kann man
wohl kaum erwarten, dass er die Wahrheit aussagt."
Escalus war sich der Befangenheit seines Zeugen durchaus bewusst, andererseits
wusste er nur zu genau, dass ein Gehenkter niemals ausreicht, den Blutdurst
des Mobs zu stillen. Er hob demonstrativ die Arme. "Tybalt hat Mercutio
erstochen, bevor er selbst erstochen wurde. Mir scheint, liebe Frau Capulet,
dass Romeo nur dem Rachewunsch der Familie Montague Genuege getan hat."
Herr Montague zauderte nicht, in die gleiche Kerbe zu hauen. "Romeo haette
wohl die Arbeit Herrn Escalus ueberlassen sollen, aber er hat sicherlich im
Affekt gehandelt. War sozusagen nur Henker."
Frau Capulet schnappte nach Luft. "Henker?"
Escalus, dem die Situation zu entgleiten drohte, hob die Hand. "Schluss. Romeo
hat meine Gerichtshoheit untergraben. Also verbanne ich ihn. Fuer den Mord
will ich weiter keine Strafe verhaengen, weil ich Tybalt nicht anders
behandelt haette."